EPILEPSIE

AUßER KONTROLLE


In Nordrhein-Westfalen leben schätzungsweise 126.000 Epilepsiepatienten. Immer wieder und ohne vorherige Signale werden sie von Anfällen überwältigt. Gerd Bronneberg ist dank einer Gehirnoperation im Epilepsiezentrum Essen nach 30 Jahren endlich anfallsfrei.

TEXT: JULIA JANSEN

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Vor 30 Jahren veränderte sich das Leben von Gerd Bronneberg auf einen Schlag. Als der gebürtige Grevenbroicher nach einer brutalen Schlägerei im Krankenhaus erwacht, lautet die Diagnose schweres Schädelhirntrauma. Eine Woche später erlebt er zu Hause seinen ersten epileptischen Anfall: „Mein ganzer Körper hat sich verkrampft und ich habe mir auf die Zunge gebissen und geschmatzt, ohne es zu wollen. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich“, erinnert sich der heute 56-Jährige. „Danach war alles anders.“ Ein Gefühl, dass viele Epilepsiepatienten kennen. Epileptische Anfälle entstehen durch plötzliche abnormale Entladungen einer Gruppe von Nervenzellen und gehen häufig mit Störung des Bewusstseins einher. Das Leben mit solchen Anfällen, welche ohne Vorankündigung immer wieder auftreten, ist für die Betroffenen meist unvorhersehbar und gefährlich. Egal ob im Auto, im Schwimmbad oder während des Mittagsessens – ein Anfall kann immer und überall passieren und verheerenden Folgen haben.

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Erste Hilfe bei einem Epileptischen Anfall

Einen Anfall mitzuerleben, kann schnell überfordern. Der Leiter des Epilepsiezentrums Essen Dr. Carlos Quesada rät:

1. Bewahren Sie Ruhe 2. Es besteht keine Erstickungsgefahr, daher bitte keine Gegenstände in den Mund des Patienten stecken. 3. Sorgen Sie dafür, dass der Patient sich nicht verletzen kann und entfernen Sie mögliche gefährliche Gegenstände. 4. Bringen Sie den Patienten in die stabile Seitenlage. 5. Stellen Sie sicher, dass der Atemweg frei ist. 6. Vergewissern Sie sich nach dem Anfall, dass der Patient wieder atmet und der Puls tastbar ist. 7. Sollte sich der Patient nicht rasch erholen, rufen Sie einen Notarzt.

Noch schwerer aber lastet das gesellschaftliche Stigma auf vielen Erkrankten. „Epilepsie ist leider immer noch eine Tabuerkrankung über die viel Unwissenheit herrscht“, bedauert Dr. Carlos Quesada. Der Leiter des Epilepsiezentrums Essen (EZE) behandelt jedes Jahr rund 600 Patienten und weiß, dass sie nicht nur unter der Erkrankung an sich leiden. „Vielen Menschen ist gar nicht klar, dass die Epilepsie keine einzelne, klar umrissene Krankheit ist. Tatsächlich hat nicht jeder Epileptiker zwangsläufig sogenannte Grand-Mal-Anfälle, bei denen die Patienten zu Boden stürzen und stark verkrampfen. Die Ursachen und die Art der Anfälle variieren stark, weswegen die Patienten eine individuelle Behandlung benötigen.“ Auch Gerd Bronneberg versucht die Krämpfe anfangs herunterzuspielen, fährt bei der Arbeit weiter Gabelstapler, will nicht wahrhaben, dass da vielleicht etwas nicht stimmt. „Aber irgendwann hat mich meine Frau dann doch überredet, mich im EZE vorzustellen“, so der Lagerfacharbeiter. Was folgt, ist eine umfangreiche Anfallsanamnese, sowie ein EEG zur Messung der Hirnströme und eine Bildgebung im MRT. Doch die Medikamente, die Bronneberg verschrieben bekam, schlagen nicht an, die Anfälle gehen weiter. „Dies ist nicht ungewöhnlich. Leider sprechen nur etwa zwei Drittel aller Patienten auf eine medikamentöse Therapie an. Ein Drittel wird durch Medikamente nicht anfallsfrei oder leidet so stark unter den Nebenwirkungen, dass wir andere Behandlungsmöglichkeiten in Betracht ziehen müssen“, erklärt Quesada.

Chirurgische Lösung

Neben bestimmten Hirnstimulationsverfahren bietet das EZE, das eng an die Klinik für Neurochirurgie unter Leitung von Prof. Dr. Ulrich Sure angebunden ist, daher eine umfangreiche Palette an chirurgischen Behandlungsmaßnahmen für sogenannte pharmakoresistente Epilepsien. Hierbei wird beim Patienten exakt das Hirnareal chirurgisch entfernt, in dem die Anfälle entstehen.

„Epilepsie ist immer noch eine Tabuerkrankung

Dr. Carlos Quesada

Bevor eine solche Lösung in Betracht gezogen wird, erfolgt durch das Expertenteam um Carlos Quesada zunächst eine umfangreiche epilepsiechirurgische Abklärung. „Erst wenn wir das betroffene Hirnareal gefunden haben, und sicher sein können, dass wir es entfernen können, ohne zum Beispiel Sprach- oder Gedächtnisstörungen hervorzurufen, empfehlen wir unseren Patienten eine entsprechende Behandlung“, betont der Leiter des EZE. Ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Abklärung ist ein sogenanntes Video-EEG, bei welchem für mehrere Tage ein Enzephalogramm geschrieben wird und parallel dazu eine Video-Aufzeichnung per Kamera erfolgt. Das aufwendige Verfahren, das seit 2020 am Universitätsklinikum Essen angeboten wird, half auch Gerd Bronneberg nach fast 30 Jahren Epilepsie wieder anfallsfrei zu werden. „Ich weiß noch, wie ich letztes Jahr auf Station lag, überall verkabelt und mal wieder einen Anfall hatte. Kurz danach kam Dr. Quesada rein und meinte: ‚Herr Bronneberg, ich glaube, wir haben endlich die Ursache für ihre Erkrankung. Da ist ein kleiner Bluttropfen in ihrem Gehirn, der da nicht hingehört!‘“ Für den Wahl-Gladbecker eine riesen Erleichterung: „Ich habe gesagt, sofort raus damit‘. Ich wollte einfach wieder ein normales Leben haben, das Risiko der Hirnoperation habe ich dafür gerne in Kauf genommen. Viel gefährlicher als ein Leben mit Epilepsie konnte es ja auch nicht sein.“ Heute, rund ein Jahr nach seiner OP, ist Bronneberg komplett anfallsfrei. „Und auch die Medikamente kann ich endlich ausschleichen.“ Demnächst muss Bronneberg nochmal nach Essen zur Nachuntersuchung in die Röhre. „Danach bin ich hoffentlich alle Einschränkungen endlich los!“


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