KI IN DER MEDIZIN
ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST
Sie diagnostiziert Knochenbrüche, übersetzt Arztbriefe und zählt Tumorzellen: Künstliche Intelligenz hat schon vor ChatGPT Einzug in den klinischen Alltag der Universitätsmedizin Essen gehalten. Wie das die Medizin menschlicher machen soll.
TEXT: MAIKE GRÖNEWEG
FOTOS: UME
TEXT: MAIKE GRÖNEWEG
FOTO: JAN LADWIG
„Für 80 Prozent der Aufgaben, die heute von medizinischen Fachkräften durchgeführt werden, wie Dokumentationen oder Protokolle, sind Menschen eigentlich viel zu schade.“
Prof. Felix Nensa

Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten
Ein Patient sitzt bei seiner Dermatologin und schildert den Grund für seinen Besuch: Ein Muttermal hat sich seiner Ansicht nach in der letzten Zeit verändert. Der Patient ist beunruhigt. Die Ärztin hört aufmerksam zu und hakt an einigen Stellen nach. Es steht kein Bildschirm auf dem Schreibtisch, der sie von ihrem Patienten trennt, denn sie muss nicht mitschreiben. Das Gesprochene wird aufgezeichnet und automatisch in der elektronischen Patientenakte zusammenfasst. Nachdem sich die Dermatologin das besagte Muttermal angeschaut hat, macht sie ein Foto davon, lädt es in eine App hoch – und bekommt direkt die Mitteilung, dass es harmlos ist. Es braucht keine Gewebeentnahme, keine Überprüfung durch einen Pathologen. Hier behandelt Künstliche Intelligenz (KI) mit.
„So ein Szenario ist gar nicht mehr so weit von der Realität entfernt“, sagt Prof. Felix Nensa, Professor für Radiologie mit Schwerpunkt KI am Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin (IKIM) der Universitätsmedizin Essen. „Ich bin optimistisch, dass in den nächsten Jahren die Digitalisierung im Gesundheitswesen schnell vorangeht und sich damit auch KI-Anwendungen immer weiter entwickeln und etablieren.“ Dass es in Essen bis dahin kein weiter Weg mehr ist, zeigen auch die unterschiedlichen Einsatzgebiete von KI, die es hier heute schon gibt – teils ist KI in zertifizierten Anwendungen schon fest in tägliche Abläufe eingebunden, teils wird sie hier noch erforscht.

PD Dr. Britta Hüning bei der Videoaufnahme eines Säuglings, die später durch KI analysiert wird.
KI sieht mehr als der Mensch
Viele Anwendungen funktionieren auf der Basis von Bilderkennung; die meisten werden bisher in der Radiologie entwickelt und eingesetzt. „Sie können im klinischen Alltag unter anderem bereits Knochenbrüche auf Röntgenbildern schnell und zuverlässig erkennen, MRT- und CT-Bilder so hochrechnen, dass Patientinnen und Patienten bei der Erstellung weniger Kontrastmittel bekommen müssen, oder in sehr kurzer Zeit Lungenarterien-Embolien diagnostizieren“, erklärt PD Dr. Johannes Haubold, Bereichsleitender Oberarzt in der Radiologie mit Schwerpunkt klinische KI-Integration.
Er hat eine Anwendung mitentwickelt, die anhand eines CTs analysiert, wie hoch der Anteil unter anderem an Muskel- und Fettgewebe oder wie hoch die intramuskuläre Verfettung ist. „Wenn man diese Werte mit dem Alter und dem Geschlecht kombiniert, können wir sehr gut die Gebrechlichkeit einschätzen und die Sterblichkeit vorhersagen. Wir können damit in Zukunft besser abschätzen, welche Therapie für den Patienten geeignet ist. Ein sehr gebrechlicher Patient wird wahrscheinlich eher von einer begleitenden Physiotherapie als von einer sehr aggressiven Therapie profitieren“, sagt Haubold.
Dass KI so gut in die Radiologie passt, ist kein Zufall, erklärt er: „Wir arbeiten hier mit CT, MRT und Röntgen, deren Bilder uns bereits seit mehr als 20 Jahren digital vorliegen.“ Denn um KI-Anwendungen zu entwickeln, braucht es große Mengen an Daten, mit der die KI trainiert wird. Im Gesundheitssystem ist das eine der größten Herausforderungen, denn hier spielt Datenschutz eine wichtige Rolle. Das erschwert den Austausch und die Speicherung sensibler Gesundheitsdaten an vielen Stellen.
KI braucht Daten
In Essen hat Prof. Felix Nensa diesen Bedarf früh erkannt und bereits 2011 die Entwicklung der heute größten medizinischen Datenplattform in Deutschland gestartet. Kolleginnen und Kollegen, Unternehmen und Expertinnen und Experten aus aller Welt schauen immer wieder in Essen vorbei und zeigen sich beeindruckt. „Alle Daten des Universitätsklinikums aus allen Kliniken und Fachbereichen – mittlerweile mehr als 1,7 Milliarden – werden hier automatisch strukturiert, anonymisiert und gut geschützt eingespeist. Das sind zum Beispiel Bilder, Laborwerte oder Informationen rund um Operationen, die uns als Basis für unsere Forschung dienen,“ erklärt Nensa.
„KI IST WIE EIN WERKZEUGKASTEN“
Was genau ist Künstliche Intelligenz und wie funktioniert sie? Wir haben jemanden gefragt, der es wissen muss – ChatGPT.
Was ist Künstliche Intelligenz?
KI ist so etwas wie ein Computerprogramm, das lernen kann, Dinge zu tun, die normalerweise menschliches Denken erfordern. Das umfasst wahrnehmen, verstehen, lernen, schlussfolgern, planen, Kreativität und emotionale Intelligenz. KI-Programme versuchen, einige dieser Aspekte nachzuahmen, indem sie Muster erkennen, aus Daten lernen und Aufgaben automatisieren. Aber im Vergleich zu Menschen haben KI-Programme oft noch Schwierigkeiten mit Kreativität oder emotionaler Intelligenz, weil diese Dinge wirklich komplex sind und nicht nur auf Logik oder Mustern basieren.
Welche Dinge kann KI tun?
KI kann Sprache verstehen, Bilder und Videos erkennen, Entscheidungen treffen, Vorhersagen machen und Texte schreiben. Sie ist wie ein Werkzeugkasten, der für viele verschiedene Dinge verwendet werden kann, je nachdem, was die Menschen brauchen und wie sie die KI trainieren.
Wie trainiert man eine KI?
Die KI bekommt viele Beispiele – das sind Daten –, wie zum Beispiel Fotos von Katzen und Hunden. Wenn sie richtig erkennt, was auf dem Bild ist, sagen wir ihr „gut gemacht“. Wenn sie falsch liegt, korrigieren wir sie. So lernt sie nach und nach, wie sie die Aufgabe lösen kann – also zum Beispiel immer besser zwischen Fotos von Katzen und Hunden zu unterscheiden.
Wie bei Interviews üblich wurden Fragen und Antworten redaktionell angepasst. Das Interview wurde außerdem inhaltlich von einem Experten überprüft.

Unsere Forschung – damit meint der KI-Experte die Arbeit von einem mittlerweile 150-köpfigen Team am IKIM. 2019 gegründet, kommen hier Menschen aus der Medizin und der Informatik, der Forschung und der Klinik zusammen, um gemeinsam KI-Anwendungen zu entwickeln und sie in den klinischen Alltag zu integrieren. Heller Holzboden, Büros mit großen Glasfronten, Arbeitsplätze mit hochmodernen Rechnern und mehreren Bildschirmen, über die Zahlen und Diagramme flimmern, ein Tischkicker, eine Tischtennisplatte – wer das IKIM besucht, wähnt sich eher in einem Start-up als am Institut eines Universitätsklinikums.
Und damit für den professionellen Nachwuchs gesorgt ist, arbeitet das IKIM eng mit dem Graduiertenkolleg „WisPerMed“ zusammen. Dieses bildet Nachwuchswissenschaftler aus den Bereichen Medizinische Informatik, Informatik, Statistik, Epidemiologie und Psychologie so aus, dass sie mithilfe von Daten Entscheidungsprozesse und Methoden für eine personalisiertere Medizin entwerfen und umsetzen – am Beispiel von Hautkrebs.
Wie KI hilft, Medizin wieder menschlicher zu machen
„Wir müssen jetzt in KI investieren, denn sie spielt in der Zukunft und der Transformation der Medizin eine wichtige Rolle. Sie wird nie müde, ist immer erreichbar, kann Dinge, die wir nicht können und damit die Patientenversorgung verbessern. Das kann die Medizin wieder menschlicher machen“, erklärt Nensa. Menschlichere Medizin dank KI, ist das nicht ein Widerspruch?
„Im Gesundheitswesen ist das zentrale Problem der Fachkräftemangel. Für 80 Prozent der Aufgaben, die heute von hoch qualifizierten Fachkräften durchgeführt werden, wie Dokumentationen oder Protokolle, sind Menschen eigentlich viel zu schade. Wenn die KI diese übernehmen kann, haben wir wieder mehr Zeit, uns auf den Kern der Medizin zu konzentrieren: das Zwischenmenschliche“, sagt Nensa. „KI wird Fachkräfte aber auf absehbare Zeit nicht ersetzen können. Wie Kollegen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen ergänzen wir uns einfach sehr gut“, fügt Haubold hinzu.
Das wird auch in der Pathologie deutlich, zeigt Fabian Hörst. Der Doktorand von Prof. Jens Kleesiek am IKIM lädt eine digitalisierte Gewebeprobe in eine Anwendung, die hier entwickelt wurde und nun getestet wird. Mehrere Hunderttausend Zellen sind darauf zu erkennen. Mit nur einem Klick färben sie sich bunt. „Normalerweise schaut sich ein Pathologe eine Probe unter dem Mikroskop an und schätzt, wie groß der Anteil zum Beispiel an Tumorzellen ist. KI färbt die Zelltypen hingegen, kategorisiert sie und zählt sie aus. Wir machen die Informationen also messbar“, erklärt Hörst. Die Auswertung einer Gewebeprobe verläuft so nicht nur schneller, es könnten zukünftig auch besser Aussagen über die Zellaktivität und Veränderungen getroffen werden. „Konkret kann dadurch die Therapie besser auf den betroffenen Patienten angepasst werden“, sagt Hörst.
Mit nur einem Klick macht KI in Gewebeproben wie dieser Zellen sicht- und messbar. Rote Punkte zeigen beispielsweise potenzielle Tumorzellen an, grüne Entzündungszellen und gelbe tote Zellen.
„Wie Kollegen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen ergänzen wir uns einfach sehr gut.“
PD Dr. Johannes Haubold
KI in der Pflege
Auch in der Pflege unterstützt KI dabei, die Patienten noch besser zu versorgen. „Es gibt zwei Wunden, die sich sehr ähnlich sehen, aber unterschiedlich versorgt werden: den Dekubitus, der durch anhaltenden Druck auf die Haut entsteht, und die Dermatitis infolge von Inkontinenz“, erklärt Bernadette Hosters, Leitung Entwicklung und Forschung Pflege. Deshalb sei es wichtig, schnell zu unterscheiden, um welche Wunde es sich handelt. Dazu wurde jetzt ein Algorithmus trainiert, der seit dem Frühjahr getestet wird und das anhand eines Fotos kann. „Außerdem gibt er an, wie die Pflegefachpersonen diese am besten versorgen“, sagt Hosters.
In der Kinderklinik wurden in einem Forschungsprojekt EEGs – also Messungen von Gehirnströmen – von Kindern mit KI ausgewertet, um automatisch Auffälligkeiten zu finden. Die Trefferquote liegt bei über 95 Prozent. „Um EEGs auszuwerten, brauchen wir eigentlich Fachexperten, die das ganze EEG überprüfen müssten. Das Signal von einer KI, dass eine Auffälligkeit besteht, die sich ein Experte anschauen müsste, wäre da eine große Erleichterung“, sagt PD Dr. Nora Bruns, Funktionsoberärztin an der Kinderklinik.
Auch in der Diagnose von Zerebralparese, einer komplexen Bewegungsstörung, die nach einer Schädigung des Gehirns in der Schwangerschaft oder unter der Geburt auftritt, kann KI Menschen entlasten und Diagnosen erleichtern. „Dazu filmen wir Säuglinge mit erhöhtem Risiko für eine Zerebralparese drei bis fünf Minuten lang und lassen eine KI-Anwendung die Bewegungen auswerten. Mit der Videoanalyse können wir schneller und gleichzeitig genauer diagnostizieren“, sagt Oberärztin PD Dr. Britta Hüning.

Prof. Felix Nensa hat parallel Computerwissenschaft und Medizin studiert.
Auch Sprache verarbeitet KI
In Essen werden außerdem sprachbasierte KI-Anwendungen eingesetzt, unter anderem „MeDict“. Das Tool wandelt gesprochene in geschriebene Sprache um, und das multilingual. Außerdem kann es fremdsprachige Dokumente ins Deutsche übertragen. In der Hautklinik stellt ein im Rahmen von „WisPerMed“ entwickeltes Dashboard alle relevanten Informationen von Melanompatienten aus unterschiedlichen Datenquellen übersichtlich dar, sodass die Medizinerinnen und Mediziner sich diese nicht umständlich für die Falldiskussion in der Hauttumorkonferenz zusammensammeln müssen.
„Außerdem arbeiten die Doktoranden zum Beispiel an Suchmaschinen, die nicht nur nach Schlagwörtern suchen, sondern auch Quellen bewerten und Zusammenfassungen bereitstellen – angepasst an den Erfahrungsstand der nutzenden Person“, erklärt Prof. Elisabeth Livingstone, Oberärztin am Hauttumorzentrum des Westdeutschentumorzentrums (WTZ) Essen. Und im interprofessionellen Forschungsprojekt DigiCare, in dem auch die Pflege involviert ist, sollen unter anderem Chatbots eingesetzt werden, mit denen Krebspatienten ihre Symptome selbst überwachen können.
„Das Projekt arbeitet zudem an einer Erleichterung des Informationsaustausches und der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Kliniken und Fachbereichen“, erklärt Hosters. Bis zu einer KI, die bei ganz normalen Patientengesprächen zuhört, die wesentlichen Informationen in der elektronischen Patientenakte sammelt und auswertet, ist es dann tatsächlich kein so weiter Weg mehr.
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