MUSIKMEDIZIN
WENN DER SCHMERZ DEN TON ABDREHT
Der Tennisarm ist bekannt, aber der Cellodaumen ist selbst unter Ärztinnen und Musikern nur wenigen ein Begriff. Die Musikmedizin als Pendant zur Sportmedizin ist ein Nischenfach. Dabei herrscht bei Profimusikern großer Bedarf.
TEXT: CAROLIN DIEL
FOTO: ISTOCK
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Marija Radovanovics Finger flattern über die Seiten, hüpfen von links nach rechts, spielen mehrere Töne gleichzeitig – die 5. Caprice von Paganini gehört zu den technisch schwierigsten Violinstücken. Für ein Vorspiel übt die Violinistin das Stück im November 2023 wieder und wieder, mehrere Stunden am Tag. Bis sie plötzlich nicht mehr nur ihre Geige, sondern auch ein dumpfes Wummern hört. Wenig später ist ihr Ohr so sensibel, dass das Hören ihrer eigenen Stimme schmerzt. Andere Leute versteht sie kaum noch. Dazu kommen Schwindel und Kopfschmerzen. Wer wie Radovanovic professionell Musik macht, setzt seinen Körper extremen Belastungen aus. Spezifische Muskeln werden intensiv beansprucht, oft einseitig, in unnatürlicher Haltung, unter Anspannung und über Stunden. Berufsmusikerinnen und -musiker haben sogar eigene Krankheitsbilder, zum Beispiel den „Cellodaumen“, eine Arthrose im Daumensattelgelenk, oder den „Musikerkrampf“, eine neurologische Bewegungsstörung der Finger, die ausschließlich beim Musizieren, nicht aber im Alltag auftritt.
„Professionelles Musizieren ist wie Hochleistungssport“, erklärt Dr. Kathrin Fischer. Nur sei dort etabliert, dass sich um die Gesundheit des Profis ein Team an spezialisierten Medizinerinnen und Therapeuten kümmere, so die HNO-Ärztin und Phoniaterin, also Fachärztin für Sprach-, Stimm- und kindliche Hörstörungen. Berufsmusiker hingegen werden mit ihrer Gesundheit oft allein gelassen. Nicht selten fehlt bereits das Bewusstsein über die gesundheitlichen Risiken, die mit professionellem Musizieren einhergehen – unter Musikerinnen wie Medizinern. Das bleibt nicht ohne Folgen: Laut Studien leiden bis zu zwei Drittel aller Berufsmusiker unter musikspezifischen Gesundheitsproblemen. Nahezu jeder Achte muss deshalb seine Karriere aufgeben.
Dr. Kathrin Fischer
Wissen ist die beste Prävention
Um dem entgegenzuwirken, arbeiten die Folkwang Universität der Künste und die Universitätsmedizin Essen (UME) seit 2021 gemeinsam am Projekt „Künstler*innen-Gesundheit“, das auch von der Stiftung Universitätsmedizin gefördert wird. „Studierende beider Seiten sollen das Thema immer mitdenken“, sagt Prof. Matthias Sakel, Projektleiter an der Folkwang Universität. Mit seinem Kurs war der Klavierdozent daher zum Beispiel zu Besuch in der Handchirurgie der UME. „Viele meiner Studierenden spielen seit 20 Jahren Klavier, aber wissen nicht einmal, dass es an den Fingern keine Muskeln gibt“, so Sakel. Überhaupt zu verstehen, wie das – wie er es nennt – „Arbeitsgerät Hand“ – anatomisch funktioniert, trage schon viel zur Prävention bei. Dass es ein gegenseitiges Lernen ist, beweist die Teilnahme von Pneumologen am Folkwang-Kurs „Atem und Klang“.
Weitere musikmedizinische Veranstaltungen sind geplant, eine Professur ist ausgeschrieben. Zudem lernen Musikstudierende weitere Präventionsmaßnahmen kennen: vom Gehörschutz bis hin zu Entspannungsübungen. Wer Beschwerden hat, wird über ein Netzwerk direkt an Expertinnen und Experten der UME verwiesen. So wie an HNO-Ärztin Fischer, die im Rahmen des Projekts an ihrer Klinik in der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie eine extra Musikersprechstunde eingerichtet hat. Auch andere Fachbereiche wie die Neurologie oder die Orthopädie sind in die Kooperation involviert.
Existenzangst und Identitätskrise
Was passiert, wenn musikmedizinisches Wissen fehlt und Beschwerden nicht frühzeitig erkannt werden, zeigt das Schicksal von Abdellah Lasri. 2016 steht der Tenor vor seinem großen Durchbruch, hat Aufträge in Paris, Berlin und Los Angeles. Doch nach einer Refluxerkrankung bekommt er plötzlich Stimmprobleme. Der Reflux wird behandelt, doch die Probleme bleiben. Die Aufträge muss er absagen. Erst bekommt er finanzielle Probleme, dann psychische. „Ich arbeite nicht nur als Opernsänger, ich bin Opernsänger“, so Lasri. Kein Arzt kann ihm helfen, bis er 2024 in der Sprechstunde von Fischer landet. Sie diagnostiziert sofort eine für Sänger typische, pathologische Verdickung der Stimmlippen. Durch die Diagnose und vor allem mithilfe von Stimmtherapie ist Lasri heute wieder auf dem Weg der Besserung. Durch sein Netzwerk hofft der 42-Jährige, bald wieder kleinere Rollen singen zu können. Die große Karriere allerdings, weiß er, ist für ihn gestorben. Violinistin Marija Radovanovic allerdings steht sie vielleicht noch bevor. Anders als Lasri bekommt sie nur wenige Tage nach Auftreten der Beschwerden eine Diagnose. Eine Verspannung im Nacken löst die Ohrenprobleme aus. Spezielle Physiotherapie hilft ihr, durch ein besseres Körpergefühl frühzeitig zu erkennen, wenn sie verkrampft, und ihre Haltung dementsprechend zu korrigieren. „Das sind ganz kleine Unterschiede, die ich früher nie bemerkt hätte. Aber die haben eine riesige Wirkung“, freut sich die 22-Jährige. Außerdem trägt sie jetzt einen individuellen Gehörschutz beim Spielen. Sie träumt davon, einmal die leitende Geige in einem großen Orchester zu spielen. Gerade übt sie das Stück Beethovens Violinkonzert – und hört dabei nichts mehr außer ihrer Geige.
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Wer mehr über das Projekt „Künstler*innen-Gesundheit“ erfahren möchte, kann sich auf der Homepage der Folkwang Universität informieren:
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