TITELSTORY

ÜBER UMWEGE


Sie waren Kellnerin, Konditor oder Fotografin. Heute arbeiten sie in der Pflege. Immer häufiger entscheiden sich Menschen nach Jahren in einem anderen Job für einen Wechsel in das vielfältige Berufsfeld – auch an der Universitätsmedizin Essen. Drei von ihnen erzählen hier ihre Geschichte.

TEXT: CAROLIN DIEL

FOTOS: JAN LADWIG UND STEFAN MOSEBACH

Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten

Beruflich nochmal ganz neu starten. Laut einer Umfrage des Jobportals Indeed können sich das rund 38 Prozent der deutschen Angestellten vorstellen. Die Pflege ist dabei ein beliebter Beruf für einen Neuanfang. Rund 18 Prozent der neuen Auszubildenden in der Pflege waren 2022 über 30 Jahre alt, knapp 7 Prozent sogar über 40. Auch an der UME gibt es viele Neustarterinnen und Neustarter. Sie haben nach mehr Herausforderungen, mehr Sicherheit oder mehr Menschlichkeit im Job gesucht – und sie gefunden. Manchmal auch ohne gewusst zu haben, dass sie überhaupt auf der Suche waren.

KATHARINA ROSCHE genießt es, nicht mehr auf Knopfdruck kreativ sein zu müssen.

FRÜHER FOTOSTUDIO, HEUTE OP-SAAL

Katharina Rosche, von der Fotografin zur Operationstechnischen Assistentin (OTA) am SJK

„Vor der Ausbildung zur OTA muss man ein zweiwöchiges Praktikum absolvieren. Am Abend davor war ich supernervös. Obwohl ich noch nie vorher bei einer Operation dabei war, hatte ich meinen Job im Fotostudio schon gekündigt und alles auf eine Karte gesetzt. Was, wenn ich morgen merken würde, dass die OTA doch nicht meins ist? Aber diese Zweifel lösten sich zum Glück nach wenigen Minuten in Luft auf. Im hochkonzentrierten Gewusel des OPs fühlte ich mich sofort wohl.

Vor dem Abitur hatte ich zwischen Medizin und Fotografie geschwankt. Aber die Fotografie war mir damals näher. Mein Vater fotografierte viel, ich hatte früh meine erste Kamera in der Hand und ein Schülerpraktikum im Fotostudio hatte mir gut gefallen. Ich begann also eine Ausbildung zur Fotografin in einem kleinen Studio in Bremerhaven. Nicht direkt nach der Schule in die Medizin gegangen zu sein, habe ich nie bereut. Ich habe die Shootings geliebt. Aber die Arbeitsbedingungen als Fotografin haben mich am Ende zum Wechsel bewegt. Wenn man nicht selbstständig ist, verdient man schlecht. Selbstständigsein konnte ich mir aber nie vorstellen. Ich brauche dieses: Aufgaben erledigen, Feierabend, Kopf aus. Und dann immer zu Dienstleistungszeiten arbeiten, 10 bis 20 Uhr – auch samstags. Davor schafft man nichts, danach auch nicht. Als ich das erste Mal im neuen Job nach einem Dienst um 15:30 Uhr mit meiner Familie beim Kaffeetrinken saß, war das eine Befreiung für mich.

„Im hochkonzentrierten Gewusel des OPs fühlte ich mich sofort wohl.“

Katharina Rosche

Ich habe immer gerne kreativ gearbeitet, trotzdem vermisse ich diese Kreativität nicht. Sie ist jetzt mein Ausgleich im Privaten. Als OTA genieße ich es stattdessen, sehr strukturiert und systematisch zu arbeiten. Mir gefällt außerdem die Mischung aus körperlicher und kognitiver Arbeit. Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen, mache aber auch Dokumentation. Und ich arbeite eng mit den Chirurgen zusammen, bin bei den medizinischen Eingriffen direkt dabei, ohne Medizin studiert haben zu müssen.

Letztlich bin ich auch ein bisschen stolz, dass ich mit Mitte 20 nochmal die Segel ganz neu gesetzt habe. Auch wenn es anstrengend war, es war die richtige Entscheidung.“

JUSTINA THEIS

hat durch die Corona-Pandemie zur Pflege gefunden.

JUSTINA THEIS

hat durch die Corona-Pandemie zur Pflege gefunden.

FRÜHER RESTAURANT, HEUTE STROKE UNIT

Justina Theis, vom Bio-, Geschichts- und Literaturstudium über die Gastronomie zur neurologischen Pflege

„Meine erste Erfahrung in der Pflege war ziemlich schrecklich. An einem Dienstag hatte ich mich bei einem ambulanten Pflegedienst beworben, am Mittwoch war ich mit einer Examinierten mitgelaufen, am Donnerstag stand ich einem 96-Jährigen am Rollator gegenüber, der die ganze Nacht in seinen Fäkalien gelegen hatte. Ich sollte ihn waschen, ohne jegliche Vorkenntnisse. So hatte ich mir den Job nicht vorgestellt. Eigentlich wollte ich studieren. Ich begann mit Biologie, wechselte dann zu Geschichte und Literaturwissenschaften. Erst strebte ich eine Arbeit im Verlagswesen an, später das Lehramt. Doch mein Nebenjob in der Gastronomie wurde immer mehr zum Hauptjob. Bis ich mit 32 Jahren dachte: Du kannst ja nicht ewig kellnern. Ich kürzte meine Stunden im Restaurant und fokussierte mich wieder mehr aufs Studium. Und dann kam Corona.

Ich wurde in Kurzarbeit geschickt, bekam aber keine staatliche Hilfe. Gleichzeitig musste ich Miete zahlen und meinen Hund versorgen. Ich bewarb mich bei dem ambulanten Pflegedienst, denn hier wurde händeringend Personal gesucht. Als ich dann vor dem alten Mann stand, hatte ich also keine Wahl – und das war mein Glück. Denn nach dem ersten Schock merkte ich schnell, wie sehr mich der Pflegejob erfüllte, vor allem das Menschliche daran. Ich hatte ja auch Geschichte studiert, gerade diese Mikrohistorien der alten Menschen interessierten mich.

FRÜHER RESTAURANT, HEUTE STROKE UNIT

Justina Theis, vom Bio-, Geschichts- und Literaturstudium über die Gastronomie zur neurologischen Pflege

„Meine erste Erfahrung in der Pflege war ziemlich schrecklich. An einem Dienstag hatte ich mich bei einem ambulanten Pflegedienst beworben, am Mittwoch war ich mit einer Examinierten mitgelaufen, am Donnerstag stand ich einem 96-Jährigen am Rollator gegenüber, der die ganze Nacht in seinen Fäkalien gelegen hatte. Ich sollte ihn waschen, ohne jegliche Vorkenntnisse. So hatte ich mir den Job nicht vorgestellt. Eigentlich wollte ich studieren. Ich begann mit Biologie, wechselte dann zu Geschichte und Literaturwissenschaften. Erst strebte ich eine Arbeit im Verlagswesen an, später das Lehramt. Doch mein Nebenjob in der Gastronomie wurde immer mehr zum Hauptjob. Bis ich mit 32 Jahren dachte: Du kannst ja nicht ewig kellnern. Ich kürzte meine Stunden im Restaurant und fokussierte mich wieder mehr aufs Studium. Und dann kam Corona.

Ich wurde in Kurzarbeit geschickt, bekam aber keine staatliche Hilfe. Gleichzeitig musste ich Miete zahlen und meinen Hund versorgen. Ich bewarb mich bei dem ambulanten Pflegedienst, denn hier wurde händeringend Personal gesucht. Als ich dann vor dem alten Mann stand, hatte ich also keine Wahl – und das war mein Glück. Denn nach dem ersten Schock merkte ich schnell, wie sehr mich der Pflegejob erfüllte, vor allem das Menschliche daran. Ich hatte ja auch Geschichte studiert, gerade diese Mikrohistorien der alten Menschen interessierten mich.

„Die Mikrohistorien der alten Menschen interessieren mich.“

Justina Theis

Die größte Herausforderung beim Quereinstieg war mein Alter. Nach 15 Jahren wieder die Schulbank zu drücken, als gestandene Frau nur von 18- und 19-Jährigen umgeben zu sein, in die Rolle der „Kurs-Mutti“ gedrängt zu werden – das war schon schwierig. Im Job ist das Alter aber eher ein Vorteil, weil ich durchsetzungsfähiger bin.

Teilweise war es auch ein Thema, dass ich eine Ausbildung statt eines Studiums gemacht habe. Meine Eltern sind polnische Einwanderer. Die waren immer der Meinung, ich solle studieren gehen, damit ich es mal besser habe. Aber das finde ich falsch. Genauso wie dieses Zwei-Klassen-Denken, dass eine Ausbildung weniger anspruchsvoll ist. Ich habe mich noch nie kognitiv unterfordert gefühlt.

Außerdem hat die Pflege, was das angeht, inzwischen viel zu bieten. Direkte Patientenversorgung und übergeordnete Tätigkeiten lassen sich vielfältig verbinden. Und ich studiere gerade schon nebenberuflich. Diese Option war auch ein Argument für den Jobwechsel.“

SVEN DAUS

waren seine früheren Jobs schnell zu eintönig.

FRÜHER KONDITOREI, HEUTE KINDERKLINIK

Sven Daus, vom Konditor über den Zahnmedizinischen Fachangestellten zur Stellvertretenden Klinikpflegedienstleitung in der Kinderklinik

„Ich habe drei Ausbildungen gebraucht, um meine Berufung zu finden. Nach der Schule habe ich meine Leidenschaft zum Beruf gemacht: Backen. Doch mit dem Handwerk, das ich so liebte, hatte der Alltag wenig zu tun. Fast alles läuft maschinell, man drückt viele Knöpfe. In der Weihnachtszeit habe ich gut und gerne mal 100.000 Christstollen gebacken.

Ernüchtert beschloss ich, doch lieber etwas Soziales zu machen. Ich wurde Zahnmedizinischer Fachangestellter. Ein toller Beruf, der mich aber schnell langweilte. Zwar wechseln die Patienten, doch die Handgriffe bleiben die gleichen. Außerdem wollte ich den Menschen als Ganzes betrachten.

SVEN DAUS

waren seine früheren Jobs schnell zu eintönig.

FRÜHER KONDITOREI, HEUTE KINDERKLINIK

Sven Daus, vom Konditor über den Zahnmedizinischen Fachangestellten zur Stellvertretenden Klinikpflegedienstleitung in der Kinderklinik

„Ich habe drei Ausbildungen gebraucht, um meine Berufung zu finden. Nach der Schule habe ich meine Leidenschaft zum Beruf gemacht: Backen. Doch mit dem Handwerk, das ich so liebte, hatte der Alltag wenig zu tun. Fast alles läuft maschinell, man drückt viele Knöpfe. In der Weihnachtszeit habe ich gut und gerne mal 100.000 Christstollen gebacken.

Ernüchtert beschloss ich, doch lieber etwas Soziales zu machen. Ich wurde Zahnmedizinischer Fachangestellter. Ein toller Beruf, der mich aber schnell langweilte. Zwar wechseln die Patienten, doch die Handgriffe bleiben die gleichen. Außerdem wollte ich den Menschen als Ganzes betrachten.

„Ich habe drei Ausbildungen gebraucht, um meine Berufung zu finden.“

Sven Daus

Dann also Pflege. Warum ich mich nicht schon früher dafür entschieden hatte? Aus Respekt. Man trägt die Verantwortung für ein Menschenleben. Wenn mir ein Brot verbrannte, wurde es eben neu gebacken. In der Zahnarztpraxis war ich immer nur Assistent. Doch in der Pflege haben Fehler eine andere Tragweite. Ich musste also erst eine gewisse geistige Reife gewinnen, um mir den Job zuzutrauen. Durch Zufall waren alle Auszubildenden in meinem Kurs mindestens Mitte 20. Das machte den Quereinstieg natürlich leichter. Trotzdem muss ich mich oft für meinen Werdegang rechtfertigen. Drei Ausbildungen? Der weiß nicht, was er will. Der bleibt nie dran. Diese Vorwürfe nehme ich aber locker. Ich habe etwas Anlauf gebraucht, aber dafür bin ich mir heute umso sicherer mit meinem Beruf.

Was mir die Pflege außerdem gibt, was mir kein anderer Job geben konnte, ist die Möglichkeit, mich stetig weiterzuentwickeln. Ich erlebe jeden Tag Situationen, die ich vorher noch nicht kannte. Innerhalb des Berufsfeldes gibt es unendliche Op­tionen, sich neu zu erfinden: verschiedene Fachrichtungen, Studium, Management. Ich bin inzwischen Stationsleitung und Abwesenheitsvertretung der Klinikpflegedienstleitung in der Frauenklinik und Kinderklinik und kann damit sogar die Strukturen aktiv mitgestalten.“


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