TITELSTORY
DAS IST JA KRANK!
Von der Lachkrankheit über Homosexualität bis hin zum Burnout – was wann wo als krank gilt, ist Definitionssache und ändert sich immer wieder. Wie neue Krankheiten entstehen und was sie über eine Gesellschaft aussagen.
TITELSTORY
DAS IST JA KRANK!
Von der Lachkrankheit über Homosexualität bis hin zum Burnout – was wann wo als krank gilt, ist Definitionssache und ändert sich immer wieder. Wie neue Krankheiten entstehen und was sie über eine Gesellschaft aussagen.
TEXT: CAROLIN DIEL
FOTOS: MIDJOURNEY
TEXT: MAIKE GRÖNEWEG
FOTO: JAN LADWIG

Prof. Ulf Dittmer leitet das Institut für Virologie der Universitätsmedizin Essen.
Geschätzte Lesezeit: 8 Minuten
Code 8E01.1 im internationalen Katalog anerkannter Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation: Kuru. Als Symptome gelten Gleichgewichtsstörungen, Zittern, Demenz, unnatürliches Lachen. Die Übertragung erfolgt durch die Einnahme von infiziertem menschlichen Gehirn. Bis in die 1950er-Jahre kam es immer wieder zu Ausbrüchen der sogenannten Lachkrankheit – allerdings nur auf Papua-Neuguinea und nur unter den Fore. Anhänger dieses indigenen Volkes verzehrten regelmäßig rituell das Gehirn ihrer Verstorbenen. Erst mit dem Kannibalismus-Verbot auf Papua-Neuguinea 1954 ist Kuru fast gänzlich verschwunden. Geblieben ist nur der Code im ICD.
Krankheiten sind nicht statisch. Wie eine Gesellschaft lebt, was sie isst, trinkt und arbeitet, wo und wie sie sich bewegt, welche Werte und Normen sie teilt – all das hat Einfluss auf die Entwicklung neuer Krankheiten. „Ändern sich unsere Lebensbedingungen, dann ändert sich auch das Spektrum unserer Krankheiten“, erklärt Claudia Peter. Die Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin lehrt und forscht seit Langem dazu, wie die Entwicklungen von Krankheiten und Gesellschaften sich gegenseitig bedingen. „Wenn wir den ganzen Tag auf den Beinen sind als Bauern, Ritter oder Soldaten, dann haben wir eben nicht die Krankheiten, die es erst gibt, seitdem wir durch Schreibtischarbeit, Fernsehen und Handyscrolling viel sitzen“, sagt Peter. „Und während in einem Entwicklungsland Mangelernährung ein gesundheitliches Problem ist, kämpfen wir im Westen eher mit Adipositas und Diabetes.“ Für sie sind Krankheiten eindeutig ein Spiegel der Gesellschaft. Aber was lässt sich von einer neu entstandenen Krankheit über eine Gesellschaft lernen? Und was sagen die neuen Krankheiten unserer Zeit über uns aus?
Ein Paradies für Infektionskrankheiten
Winter 2019: Im chinesischen Wuhan wird ein neuartiger Virus entdeckt. Innerhalb weniger Wochen erkranken Menschen weltweit an COVID-19. Die Corona-Pandemie ist ein Sinnbild für die enge Verknüpfung zwischen Lebensbedingungen und Krankheiten. So sei unsere heutige dicht bevölkerte und globalisierte Welt die perfekte Brutstätte für Infektionskrankheiten, erklärt Prof. Ulf Dittmer. „Von der U-Bahn bis hin zu Massentierhaltungsbetrieben – überall dort, wo sehr viele Wirte eng auf einem Haufen zusammenkommen, können Viren sich optimal vermehren“, so der Leiter des Instituts für Virologie der Universitätsmedizin Essen. Bei jedem Vermehren besteht dann die Möglichkeit einer Mutation, also einer genetischen Veränderung des Virus, die ihn potenziell anpassungsfähiger an seinen Wirt und damit im Zweifel gefährlicher oder ansteckender macht. „Das ist klassische Evolution im Kleinen und im Schnelldurchlauf“, so Dittmer. Der Pool an Erregern, die zu neuen Krankheiten führen könnten, sei dabei fast unendlich, gibt er zu bedenken: „Wir kennen schätzungsweise gerade mal ein bis zwei Prozent der Viren, die es in Säugetieren gibt, die aber auf den Menschen übertragbar werden könnten – von den Viren in anderen Tierfamilien ganz zu schweigen.“
5. Jahrhundert v. Chr.
Hysterie Der Arzt Hippokrates beschrieb im antiken Griechenland erstmals die Krankheit Hysterie. Die Gebärmutter – auf Griechisch „hystera“, daher auch der Name – wurde zu dieser Zeit als eine Art eigenständiges Wesen betrachtet. Würde sie durch eine ausbleibende Schwangerschaft oder sexuelle Enthaltsamkeit um seine natürliche Funktion gebracht, finge sie an, durch den Körper der betroffenen Frau zu wandern und deren Organe anzugreifen.
Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten
Code 8E01.1 im internationalen Katalog anerkannter Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation: Kuru. Als Symptome gelten Gleichgewichtsstörungen, Zittern, Demenz, unnatürliches Lachen. Die Übertragung erfolgt durch die Einnahme von infiziertem menschlichen Gehirn. Bis in die 1950er-Jahre kam es immer wieder zu Ausbrüchen der sogenannten Lachkrankheit – allerdings nur auf Papua-Neuguinea und nur unter den Fore. Anhänger dieses indigenen Volkes verzehrten regelmäßig rituell das Gehirn ihrer Verstorbenen. Erst mit dem Kannibalismus-Verbot auf Papua-Neuguinea 1954 ist Kuru fast gänzlich verschwunden. Geblieben ist nur der Code im ICD.
Krankheiten sind nicht statisch. Wie eine Gesellschaft lebt, was sie isst, trinkt und arbeitet, wo und wie sie sich bewegt, welche Werte und Normen sie teilt – all das hat Einfluss auf die Entwicklung neuer Krankheiten. „Ändern sich unsere Lebensbedingungen, dann ändert sich auch das Spektrum unserer Krankheiten“, erklärt Claudia Peter. Die Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin lehrt und forscht seit Langem dazu, wie die Entwicklungen von Krankheiten und Gesellschaften sich gegenseitig bedingen. „Wenn wir den ganzen Tag auf den Beinen sind als Bauern, Ritter oder Soldaten, dann haben wir eben nicht die Krankheiten, die es erst gibt, seitdem wir durch Schreibtischarbeit, Fernsehen und Handyscrolling viel sitzen“, sagt Peter. „Und während in einem Entwicklungsland Mangelernährung ein gesundheitliches Problem ist, kämpfen wir im Westen eher mit Adipositas und Diabetes.“ Für sie sind Krankheiten eindeutig ein Spiegel der Gesellschaft. Aber was lässt sich von einer neu entstandenen Krankheit über eine Gesellschaft lernen? Und was sagen die neuen Krankheiten unserer Zeit über uns aus?
Ein Paradies für Infektionskrankheiten
Winter 2019: Im chinesischen Wuhan wird ein neuartiger Virus entdeckt. Innerhalb weniger Wochen erkranken Menschen weltweit an COVID-19. Die Corona-Pandemie ist ein Sinnbild für die enge Verknüpfung zwischen Lebensbedingungen und Krankheiten. So sei unsere heutige dicht bevölkerte und globalisierte Welt die perfekte Brutstätte für Infektionskrankheiten, erklärt Prof. Ulf Dittmer. „Von der U-Bahn bis hin zu Massentierhaltungsbetrieben – überall dort, wo sehr viele Wirte eng auf einem Haufen zusammenkommen, können Viren sich optimal vermehren“, so der Leiter des Instituts für Virologie der Universitätsmedizin Essen. Bei jedem Vermehren besteht dann die Möglichkeit einer Mutation, also einer genetischen Veränderung des Virus, die ihn potenziell anpassungsfähiger an seinen Wirt und damit im Zweifel gefährlicher oder ansteckender macht. „Das ist klassische Evolution im Kleinen und im Schnelldurchlauf“, so Dittmer. Der Pool an Erregern, die zu neuen Krankheiten führen könnten, sei dabei fast unendlich, gibt er zu bedenken: „Wir kennen schätzungsweise gerade mal ein bis zwei Prozent der Viren, die es in Säugetieren gibt, die aber auf den Menschen übertragbar werden könnten – von den Viren in anderen Tierfamilien ganz zu schweigen.“

Prof. Ulf Dittmer leitet das Institut für Virologie der Universitätsmedizin Essen.
GAMING hat Suchtpotenzial – und zwar bis zu einem Punkt, an dem es krankhaft wird. Nur wann ist dieser erreicht?
Ende 19. Jahrhundert
Neurasthenie Mit der Industrialisierung wachsen die Städte, der Alltag wird elektrifiziert und durch neue Medien und Transportmittel beschleunigt. Neurasthenie wird zur Modekrankheit dieser neuen Zeit der Reizüberflutung. Überlastete Nerven sollen von Karies bis hin zu Impotenz führen. Auch die empfohlene Behandlung spiegelte den Zeitgeist: Elektroschocktherapie. Der Oberschicht dient die Neurasthenie auch zur Abgrenzung vom einfachen Volk. Nur wer feingeistig und sensibel sei, könne daran leiden. Mit dem Ersten Weltkrieg ist angesichts der vielen Kriegsinvaliden kein Platz mehr für die vermeintliche Wohlstandskrankheit – auch weil sich das Menschenbild ändert: Stark ist das neue sensibel.
Eindeutig versus uneindeutig
Innerhalb weniger Wochen war COVID-19 damals im ICD aufgenommen. Darüber, dass es sich hier um eine neue Krankheit handelte, herrschte schnell Einigkeit. Allerdings ist der Definitionsprozess einer neuen Krankheit nicht immer so schnell und so klar. Soziologin Peter vergleicht den Prozess mit der Filterung durch einen Trichter: „Oben kommen neue Phänomene rein. Dann findet ein Aushandlungsprozess statt, bei dem verschiedene Akteure mitreden. Unten kommen dann jene Phänomene raus, die offiziell als Krankheit anerkannt werden und im ICD landen.“ Bei vielen Krankheiten, die in den letzten Jahren neu im ICD aufgenommen wurden, war es ein längerer und holpriger Prozess, der zum Teil immer noch nicht abgeschlossen ist. Beispiele dafür sind Burnout, Internetsucht oder auch Long COVID. „Es gibt viele Phänomene, die nicht eindeutig krankhaft sind“, sagt Soziologin Peter. Wenn körperliche Veränderungen auftreten, die das Leben des Betroffenen erkennbar einschränken oder sogar gefährden, ist der Fall klar. Oft sind diese Fälle auch objektiv messbar: Bestimmte Laborwerte werden über- oder unterschritten, spezielle Gene fehlen oder sind mutiert. Gibt es diese objektiven, messbaren Anzeichen nicht – entweder weil sie noch nicht entdeckt oder Symptome zu unspezifisch sind –, wird es schwierig. Besonders häufig begegnet Medizinerinnen und Medizinern dieses Problem bei psychischen Erkrankungen. Aber nicht nur dort: Auch beispielsweise Long COVID, bei dem Menschen explizit über körperliche Symptome klagen, ist ein solches uneindeutiges und daher als Krankheit noch umstrittenes Phänomen. „Dann müssen wir den Blick auf das Leben des Patienten ausweiten“, so Peter. Wie stark ist der Leidensdruck? Wie sehr ist der Betroffene in seiner Lebensqualität und Autonomie eingeschränkt? Nur: Das ist individuell sehr unterschiedlich.

„Bei der Festlegung, was krank ist, geht es immer auch um Politik und Macht.“
Claudia Peter
Eindeutig versus uneindeutig
Innerhalb weniger Wochen war COVID-19 damals im ICD aufgenommen. Darüber, dass es sich hier um eine neue Krankheit handelte, herrschte schnell Einigkeit. Allerdings ist der Definitionsprozess einer neuen Krankheit nicht immer so schnell und so klar. Soziologin Peter vergleicht den Prozess mit der Filterung durch einen Trichter: „Oben kommen neue Phänomene rein. Dann findet ein Aushandlungsprozess statt, bei dem verschiedene Akteure mitreden. Unten kommen dann jene Phänomene raus, die offiziell als Krankheit anerkannt werden und im ICD landen.“ Bei vielen Krankheiten, die in den letzten Jahren neu im ICD aufgenommen wurden, war es ein längerer und holpriger Prozess, der zum Teil immer noch nicht abgeschlossen ist. Beispiele dafür sind Burnout, Internetsucht oder auch Long COVID. „Es gibt viele Phänomene, die nicht eindeutig krankhaft sind“, sagt Soziologin Peter. Wenn körperliche Veränderungen auftreten, die das Leben des Betroffenen erkennbar einschränken oder sogar gefährden, ist der Fall klar. Oft sind diese Fälle auch objektiv messbar: Bestimmte Laborwerte werden über- oder unterschritten, spezielle Gene fehlen oder sind mutiert. Gibt es diese objektiven, messbaren Anzeichen nicht – entweder weil sie noch nicht entdeckt oder Symptome zu unspezifisch sind –, wird es schwierig. Besonders häufig begegnet Medizinerinnen und Medizinern dieses Problem bei psychischen Erkrankungen. Aber nicht nur dort: Auch beispielsweise Long COVID, bei dem Menschen explizit über körperliche Symptome klagen, ist ein solches uneindeutiges und daher als Krankheit noch umstrittenes Phänomen. „Dann müssen wir den Blick auf das Leben des Patienten ausweiten“, so Peter. Wie stark ist der Leidensdruck? Wie sehr ist der Betroffene in seiner Lebensqualität und Autonomie eingeschränkt? Nur: Das ist individuell sehr unterschiedlich.

„Bei der Festlegung, was krank ist, geht es immer auch um Politik und Macht.“
Claudia Peter
ENGLISCHER SCHWEISS, SPANISCHE GRIPPE, COVID:
Jede Epoche hat seine eigenen Infektionskrankheiten.
1940er-Jahre
Adipositas Lange galt ein gewisses Übergewicht als erstrebenswert oder sogar als Schönheitsideal. Doch seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte man sich hin zu einer Überversorgung mit Lebensmitteln. Immer mehr Menschen wurden übergewichtig. Als Erstes sahen Versicherungen darin ein Problem. Bei diesen schlug sich der Zusammenhang zwischen und einem erhöhten Sterberisiko unmittelbar in Zahlen nieder. In den 1940er-Jahren wurde in den USA für krankhaftes Übergewicht der Begriff „obesity“, zu Deutsch „Adipositas“, eingeführt und es damit zu einem medizinischen Problem gemacht. Seit 2020 ist Adipositas laut WHO eine offizielle Krankheit.
Krankheit als gelebte Demokratie
Der persönliche Leidensdruck ist ein besonders wichtiges Kriterium bei der Frage, ob etwas krankhaft ist oder nicht – zumindest in Deutschland. In einer Demokratie wie unserer, in der Freiheit und Selbstbestimmung eine große Rolle spielen, bekomme das Individuum viel Macht und Deutungshoheit in diesem Definitionsprozess, betont Peter. Und das sei auch gut so. „Denn eine Krankheitsdiagnose ist immer auch ein Anerkennungsprozess“, sagt Peter. Betroffene bekommen dadurch das Recht auf Krankschreibung und bezahlte Therapie. Gleichzeitig werden sie in ihrem Leiden ernst genommen. In autoritären Staaten wie Russland oder China hingegen spielt die Selbstwahrnehmung gegenüber der Wahrnehmung von medizinischen Profis so gut wie keine Rolle. „Generell geht es bei der Festlegung, was krank ist, eben auch um Politik und Macht“, stellt Peter klar. „In den westlichen Gesellschaften“, erklärt Prof. Michael Stolberg, Medizinhistoriker an der Universität Würzburg, „verlieh und verleiht die Medizin zudem nicht selten moralischen und ästhetischen Normen gleichsam eine biologische, medizinische Begründung.“ Eindringlich hätten die Ärzte in der Zeit der Aufklärung, als der Einfluss der kirchlichen Normen nachließ, beispielsweise die angeblich grauenvollen körperlichen Folgen von Homosexualität beschrieben. Einzig die – moralisch erwünschte – Sexualität in der Ehe zwischen Mann und Frau erklärten sie für gesund. „Oft waren und sind zudem auch wirtschaftliche Interessen im Spiel“, erläutert Stolberg, „wenn Ärzte und Arzneimittelhersteller neue Krankheiten ins Rampenlicht stellen.“ Der Aufstieg der sogenannten Nervenkrankheiten im 18. Jahrhundert und die zunehmende Pathologisierung der weiblichen Wechseljahre im 19. Jahrhundert zeigen das laut Stolberg sehr anschaulich. Wer sich hier als Spezialist einen Namen machte, konnte eine zahlreiche Klientel an sich ziehen und auf lukrative Honorare hoffen.

Der ideale Körper? Die alten Römer und Griechen meißelten ihre Idee davon in Stein. Starkes Übergewicht galt aber auch schon bei ihnen als ungesund.
Vorsicht Modekrankheit
Heute sind es nicht einzelne Ärzte, sondern die Industrie, also Pharmafirmen, Medizintechnik, aber beispielsweise auch Lebensmittelkonzerne, die aus Interesse an Profit immer stärker mitbestimmen – bei Gesetzentwürfen bis hin zur Festlegung von Grenzwerten für Krankheiten, wie zum Beispiel dem Body-Mass-Index bei Adipositas. „Unser Versorgungssystem kann nicht alles bezahlen und indem wir festlegen, was krank ist, bestimmen wir, wer Geld für eine Behandlung bekommt. Da müssen wir immer genau abwägen“, sagt Soziologin Peter. Dazu gehöre auch, dass man vorsichtig sein müsse bei Erkrankungen, die gerne als „Modekrankheiten“ abgestempelt werden, zum Beispiel ADHS. Bei immer mehr Kindern und jungen Erwachsenen wird die Aufmerksamkeitsdefizitstörung diagnostiziert und dementsprechend behandelt. ADHS ist eine ernstzunehmende Krankheit, die auf einer Störung der Dopaminrezeptoren basiert, schätzungsweise bis zu sechs Prozent der eurasischen Bevölkerung leidet daran. Allerdings deuten die hohen Zahlen an Diagnosen darauf hin, dass viele Kinder und vor allem junge Erwachsene ADHS-Medikamente bekommen, schlicht weil sie nicht ins System passen. In diesem Fall spricht man von Medikalisierung: strukturelle Probleme werden zu medizinischen Problemen gemacht. Denn die Medizin verspricht für viele dieser Probleme eine schnelle, einfache Lösung. „Es dauert nur Minuten, ein Ritalin-Rezept auszustellen, aber Jahrzehnte, das Bildungssystem umzubauen“, so Peter. Was sehen wir also, wenn wir uns als Gesellschaft im Krankheitsspiegel betrachten? Wir sehen Globalisierung und Austausch. Wir sehen neue Technik und Arbeitsformen. Wir sehen Individualität und Selbstbestimmung, Kapitalismus, unsere demokratischen und liberalen Werte. Das Englische kennt für das Kranksein drei verschiedene Begriffe: „disease“, „illness“ und „sickness“. Während „disease“ meint, dass eine Krankheit diagnostiziert werden kann, beschreibt „illness“ das individuelle Krankheitsgefühl des Patienten. „Sickness“ schließlich setzt auf die kulturelle Dimension. Diese feine sprachliche Differenzierung zeige sehr schön, dass man Krankheit auf vielen Ebenen betrachten und aus verschiedenen Perspektiven davon erzählen kann, so Peter: „Da hat es das Englische gut. Wir müssen diese Differenzierung anders ausdrücken.“
1980er-Jahre
ADHS Früher wurden nervöse Kinder als Zappelphilipp abgetan. Der vermeintliche Grund für ihre Probleme: eine zu liberale Erziehung. In den 1960er-Jahren vermuteten Ärzte hinter der Verhaltensauffälligkeit der Kinder einen bei der Geburt entstandenen Hirnschaden. 1973 entdeckte ein US-amerikanischer Arzt durch Zufall, dass man die Kinder erfolgreich medikamentös behandeln kann. Der Siegeszug von Ritalin begann. Heute weiß man, dass ADHS eine Neurotransmitterstörung zugrunde liegt. Längst werden nicht mehr nur Kinder, sondern auch immer mehr Erwachsene damit diagnostiziert.
2010er-Jahre
Internetsucht Sie sind so intensiv in ihren PC oder ihr Smartphone vertieft, dass sie vergessen zu essen, zu schlafen oder zu duschen. Seit 2018 ist Internetsucht eine von der WHO anerkannte Krankheit, denn Betroffene verlieren die Kontrolle über ihr Leben. Internetsucht gehört damit zu den Verhaltenssüchten, von denen in den letzten Jahren immer mehr als Krankheitsbilder in den offiziellen Krankheitskatalog ICD aufgenommen wurden. Vor der Erfindung des Internets zählten zu den Verhaltenssüchten vor allem Glücksspielsucht oder krankhafter Kaufzwang.
Krankheit als gelebte Demokratie
Der persönliche Leidensdruck ist ein besonders wichtiges Kriterium bei der Frage, ob etwas krankhaft ist oder nicht – zumindest in Deutschland. In einer Demokratie wie unserer, in der Freiheit und Selbstbestimmung eine große Rolle spielen, bekomme das Individuum viel Macht und Deutungshoheit in diesem Definitionsprozess, betont Peter. Und das sei auch gut so. „Denn eine Krankheitsdiagnose ist immer auch ein Anerkennungsprozess“, sagt Peter. Betroffene bekommen dadurch das Recht auf Krankschreibung und bezahlte Therapie. Gleichzeitig werden sie in ihrem Leiden ernst genommen. In autoritären Staaten wie Russland oder China hingegen spielt die Selbstwahrnehmung gegenüber der Wahrnehmung von medizinischen Profis so gut wie keine Rolle. „Generell geht es bei der Festlegung, was krank ist, eben auch um Politik und Macht“, stellt Peter klar. „In den westlichen Gesellschaften“, erklärt Prof. Michael Stolberg, Medizinhistoriker an der Universität Würzburg, „verlieh und verleiht die Medizin zudem nicht selten moralischen und ästhetischen Normen gleichsam eine biologische, medizinische Begründung.“ Eindringlich hätten die Ärzte in der Zeit der Aufklärung, als der Einfluss der kirchlichen Normen nachließ, beispielsweise die angeblich grauenvollen körperlichen Folgen von Homosexualität beschrieben. Einzig die – moralisch erwünschte – Sexualität in der Ehe zwischen Mann und Frau erklärten sie für gesund. „Oft waren und sind zudem auch wirtschaftliche Interessen im Spiel“, erläutert Stolberg, „wenn Ärzte und Arzneimittelhersteller neue Krankheiten ins Rampenlicht stellen.“ Der Aufstieg der sogenannten Nervenkrankheiten im 18. Jahrhundert und die zunehmende Pathologisierung der weiblichen Wechseljahre im 19. Jahrhundert zeigen das laut Stolberg sehr anschaulich. Wer sich hier als Spezialist einen Namen machte, konnte eine zahlreiche Klientel an sich ziehen und auf lukrative Honorare hoffen.

Der ideale Körper? Die alten Römer und Griechen meißelten ihre Idee davon in Stein. Starkes Übergewicht galt aber auch schon bei ihnen als ungesund.
Vorsicht Modekrankheit
Heute sind es nicht einzelne Ärzte, sondern die Industrie, also Pharmafirmen, Medizintechnik, aber beispielsweise auch Lebensmittelkonzerne, die aus Interesse an Profit immer stärker mitbestimmen – bei Gesetzentwürfen bis hin zur Festlegung von Grenzwerten für Krankheiten, wie zum Beispiel dem Body-Mass-Index bei Adipositas. „Unser Versorgungssystem kann nicht alles bezahlen und indem wir festlegen, was krank ist, bestimmen wir, wer Geld für eine Behandlung bekommt. Da müssen wir immer genau abwägen“, sagt Soziologin Peter. Dazu gehöre auch, dass man vorsichtig sein müsse bei Erkrankungen, die gerne als „Modekrankheiten“ abgestempelt werden, zum Beispiel ADHS. Bei immer mehr Kindern und jungen Erwachsenen wird die Aufmerksamkeitsdefizitstörung diagnostiziert und dementsprechend behandelt. ADHS ist eine ernstzunehmende Krankheit, die auf einer Störung der Dopaminrezeptoren basiert, schätzungsweise bis zu sechs Prozent der eurasischen Bevölkerung leidet daran. Allerdings deuten die hohen Zahlen an Diagnosen darauf hin, dass viele Kinder und vor allem junge Erwachsene ADHS-Medikamente bekommen, schlicht weil sie nicht ins System passen. In diesem Fall spricht man von Medikalisierung: strukturelle Probleme werden zu medizinischen Problemen gemacht. Denn die Medizin verspricht für viele dieser Probleme eine schnelle, einfache Lösung. „Es dauert nur Minuten, ein Ritalin-Rezept auszustellen, aber Jahrzehnte, das Bildungssystem umzubauen“, so Peter. Was sehen wir also, wenn wir uns als Gesellschaft im Krankheitsspiegel betrachten? Wir sehen Globalisierung und Austausch. Wir sehen neue Technik und Arbeitsformen. Wir sehen Individualität und Selbstbestimmung, Kapitalismus, unsere demokratischen und liberalen Werte. Das Englische kennt für das Kranksein drei verschiedene Begriffe: „disease“, „illness“ und „sickness“. Während „disease“ meint, dass eine Krankheit diagnostiziert werden kann, beschreibt „illness“ das individuelle Krankheitsgefühl des Patienten. „Sickness“ schließlich setzt auf die kulturelle Dimension. Diese feine sprachliche Differenzierung zeige sehr schön, dass man Krankheit auf vielen Ebenen betrachten und aus verschiedenen Perspektiven davon erzählen kann, so Peter: „Da hat es das Englische gut. Wir müssen diese Differenzierung anders ausdrücken.“
5. Jahrhundert v. Chr.
Hysterie Der Arzt Hippokrates beschrieb im antiken Griechenland erstmals die Krankheit Hysterie. Die Gebärmutter – auf Griechisch „hystera“, daher auch der Name – wurde zu dieser Zeit als eine Art eigenständiges Wesen betrachtet. Würde sie durch eine ausbleibende Schwangerschaft oder sexuelle Enthaltsamkeit um seine natürliche Funktion gebracht, finge sie an, durch den Körper der betroffenen Frau zu wandern und deren Organe anzugreifen.
Ende 19. Jahrhundert
Neurasthenie Mit der Industrialisierung wachsen die Städte, der Alltag wird elektrifiziert und durch neue Medien und Transportmittel beschleunigt. Neurasthenie wird zur Modekrankheit dieser neuen Zeit der Reizüberflutung. Überlastete Nerven sollen von Karies bis hin zu Impotenz führen. Auch die empfohlene Behandlung spiegelte den Zeitgeist: Elektroschocktherapie. Der Oberschicht dient die Neurasthenie auch zur Abgrenzung vom einfachen Volk. Nur wer feingeistig und sensibel sei, könne daran leiden. Mit dem Ersten Weltkrieg ist angesichts der vielen Kriegsinvaliden kein Platz mehr für die vermeintliche Wohlstandskrankheit – auch weil sich das Menschenbild ändert: Stark ist das neue sensibel.
1940er-Jahre
Adipositas Lange galt ein gewisses Übergewicht als erstrebenswert oder sogar als Schönheitsideal. Doch seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte man sich hin zu einer Überversorgung mit Lebensmitteln. Immer mehr Menschen wurden übergewichtig. Als Erstes sahen Versicherungen darin ein Problem. Bei diesen schlug sich der Zusammenhang zwischen und einem erhöhten Sterberisiko unmittelbar in Zahlen nieder. In den 1940er-Jahren wurde in den USA für krankhaftes Übergewicht der Begriff „obesity“, zu Deutsch „Adipositas“, eingeführt und es damit zu einem medizinischen Problem gemacht. Seit 2020 ist Adipositas laut WHO eine offizielle Krankheit.
1980er-Jahre
ADHS Früher wurden nervöse Kinder als Zappelphilipp abgetan. Der vermeintliche Grund für ihre Probleme: eine zu liberale Erziehung. In den 1960er-Jahren vermuteten Ärzte hinter der Verhaltensauffälligkeit der Kinder einen bei der Geburt entstandenen Hirnschaden. 1973 entdeckte ein US-amerikanischer Arzt durch Zufall, dass man die Kinder erfolgreich medikamentös behandeln kann. Der Siegeszug von Ritalin begann. Heute weiß man, dass ADHS eine Neurotransmitterstörung zugrunde liegt. Längst werden nicht mehr nur Kinder, sondern auch immer mehr Erwachsene damit diagnostiziert.
2010er-Jahre
Internetsucht Sie sind so intensiv in ihren PC oder ihr Smartphone vertieft, dass sie vergessen zu essen, zu schlafen oder zu duschen. Seit 2018 ist Internetsucht eine von der WHO anerkannte Krankheit, denn Betroffene verlieren die Kontrolle über ihr Leben. Internetsucht gehört damit zu den Verhaltenssüchten, von denen in den letzten Jahren immer mehr als Krankheitsbilder in den offiziellen Krankheitskatalog ICD aufgenommen wurden. Vor der Erfindung des Internets zählten zu den Verhaltenssüchten vor allem Glücksspielsucht oder krankhafter Kaufzwang.
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