INTERVIEW
WENN DIE NEBENWIRKUNG ZUR HAUPTWIRKUNG WIRD
Ob Aspirin oder Abnehmspritze – manche Medikamente finden ihren Weg in die Medizin anders als geplant. Jochen Schnurrer, Leitender Apotheker der Universitätsmedizin Essen erklärt, warum das so ist und was Haupt- und Nebenwirkungen damit zu tun haben.
TEXT: JULIA JANSEN
FOTOS: JAN LADWIG

Jochen Schnurrer, Leitender Apotheker der UME
Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten
Herr Schnurrer, Patienten hören im Zusammenhang mit Medikamenten oft von „Nebenwirkungen“. Wie kommt es, dass eine Nebenwirkung sogar zur Hauptwirkung eines Arzneimittels wird? Der Begriff „Nebenwirkung“ bedeutet zunächst nur, dass ein Medikament noch weitere Effekte neben der eigentlich beabsichtigten Wirkung hat. Manchmal werden diese so bedeutsam, dass sie selbst im Zentrum stehen. Ein bekanntes Beispiel ist die Acetylsalicylsäure. Ursprünglich wurde sie als Schmerz- und Fiebermittel entwickelt. Dann stellte sich heraus, dass sie das Blut verdünnt. Heute ist genau diese Wirkung bei Herzinfarkt- oder Schlaganfallpatienten der wichtigste Einsatzgrund.
Bedeutet das, dass Medikamente eigentlich ständig ihr Einsatzgebiet wechseln?
Nicht ganz. Aber oft erkennen wir durch Forschung und Anwendung, dass ein Molekül mehr kann, als wir zunächst dachten. Das eröffnet neue Perspektiven – allerdings immer in einem streng geregelten Rahmen. Damit sind wir beim sogenannten Off-Label-Use. Was versteht man darunter? Off-Label-Use meint den Einsatz eines Medikaments außerhalb der offiziellen Zulassung. Jede Zulassung legt genau fest, bei welcher Krankheit, in welcher Dosierung und für welche Patientengruppe ein Medikament eingesetzt wird. In manchen Situationen, zum Beispiel in der Kinderheilkunde oder bei seltenen Erkrankungen, gibt es aber keine zugelassenen Medikamente. Dann prüfen Ärztinnen und Ärzte, ob ein bereits vorhandenes Arzneimittel helfen könnte. Das kann eine wertvolle Behandlungsoption sein – bleibt aber immer ein Ausnahmefall. Welche Rolle spielt dabei die Aufklärung der Patienten?
Eine sehr große. Wer ein Medikament im Off-Label-Use erhält, muss unbedingt verstehen, dass dieses Präparat für diese spezielle Erkrankung nicht offiziell zugelassen ist. Das bedeutet nicht, dass es gefährlich oder unkontrolliert wäre, aber die wissenschaftliche Evidenz kann begrenzter sein. Transparenz und ausführliche Aufklärung sind entscheidend, damit Patienten eine informierte Entscheidung treffen können. Die GLP-1-Agonisten, die zum Beispiel in der Abnehmspritze Ozempic genutzt werden, sind derzeit in aller Munde. Hier müssen wir differenzieren. Für übergewichtige oder adipöse Menschen mit Folgeerkrankungen, wie Herz-Kreislauf-Problemen, kann der Einsatz medizinisch sinnvoll sein. Aber wir sehen zunehmend, dass diese Präparate auch als Lifestyle-Medikamente genutzt werden – also von Menschen ohne medizinische Indikation, die lediglich ein paar Kilos verlieren wollen. Das ist problematisch. Zum einen sind es Medikamente mit möglichen Nebenwirkungen, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollten. Zum anderen führt der Lifestyle-Einsatz zu Lieferengpässen. Für Patientinnen und Patienten, die diese Medikamente dringend benötigen, bedeutet das teils erhebliche Versorgungsprobleme. In diesen Fällen geht es nicht um Lifestyle-Tuning, sondern um eine lebenswichtige Therapie, die in Gefahr gerät.
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Angebote für Angehörige
Die Ambulanz der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der LVR-Universitätsklinik Essen bietet Angehörigen von schwerkranken Menschen psychologische Beratungsangebote an. Mehr Informationen erhalten Sie über das Ambulanzsekretariat unter: 0201 - 438 755 100
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