GENETIK
Hilfe, ich habe eine Erbkrankheit in der Familie
Ihre Schwester ist genetisch bedingt fast blind. Unsere Wie is?-Redakteurin möchte herausfinden, was das für sie bedeutet, und hat die humangenetische Sprechstunde am Uniklinikum Essen besucht.
TEXT: MAIKE GRÖNEWEG
FOTOS: PRIVAT
Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten
Das Sehvermögen meiner Schwester beträgt 2,5 Prozent. Seit ihrer Geburt ist sie stark kurzsichtig. Zwischenzeitlich trübt ein Grauer Star ihre Linse. Auch die Netzhaut ist beschädigt, im rechten Auge hat sie sich mittlerweile komplett abgelöst. Was die wiederkehrenden Probleme mit ihren Augen auslöst, hat sie erst im Alter von 23 Jahren erfahren – durch eine genetische Untersuchung. Ob die jetzt auch für mich infrage kommt, lasse ich in der humangenetischen Beratung klären.
Ein Gesamtbild erschließen
Am Universitätsklinikum Essen treffe ich mich dazu mit PD Dr. Alma Küchler, die als Fachärztin für Humangenetik Beratungsgespräche durchführt. „Wir sehen in unserer Sprechstunde vor allem Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten oder angeborenen Fehlbildungen und suchen nach den ihnen zugrunde liegenden Ursachen. Oft sind es sehr seltene Erkrankungen, manchmal erst in wenigen Einzelfällen weltweit beschrieben“, erzählt sie mir.
Die exakte Diagnosestellung sei nicht nur die Voraussetzung, um die Betroffenen optimal versorgen und behandeln zu können, sondern auch, um die Eltern des Kindes beraten zu können, erklärt Küchler. Auch meine Schwester hat eine solche diagnostische Beratung genutzt und sich anschließend untersuchen lassen. Das Ergebnis: Sie hat ein sehr seltenes Syndrom, bedingt durch Mutationen im Gen COL18A1. Mich interessiert, was das für mich bedeutet: Ist es möglich, dass ich das veränderte Gen ebenfalls in mir trage? Also, dass ich die Krankheit ebenfalls geerbt habe? Wenn ja, wie kann sich das auswirken? Küchler will mir im prädiktiven Gespräch helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Jedes der 46 Chromosomen in menschlichen Zellen enthält mehrere hundert bis mehrere tausend Gene.
Los geht die Beratung mit der Erstellung eines Stammbaums über drei Generationen und meiner Anamnese. Gemeinsam sprechen wir über gesundheitliche Auffälligkeiten, die für die Fragestellung relevant sein könnten. „Das ist das Spannende an der Genetik: Ich denke nicht nur an die Patientin, die vor mir sitzt, sondern auch an ihre Angehörigen. Ich muss mir daraus ein Gesamtbild erschließen“, erzählt Küchler.
Danach erklärt sie mir, wie die Vererbung des mutierten Gens in meiner Familie verläuft – nämlich autosomal-rezessiv. Meine Eltern haben also beide jeweils ein mutiertes und ein intaktes Gen, sodass ihre Gesundheit nicht unmittelbar beeinflusst ist. Da sie diese mutierten Genkopien aber zufälligerweise beide an meine Schwester vererbt haben, hat sich bei ihr das Syndrom ausgebildet. Mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Drittel habe auch ich eine der Varianten geerbt, bin also – wie meine Eltern – Anlageträgerin für das Syndrom.
Selbst eine Entscheidung treffen
Die genetische Untersuchung ist also eine Option, um herauszufinden, welche Anlagen in mir schlummern. „Jede Person muss selbst entscheiden, ob sie das wirklich wissen möchte. Denn mit dem Wissen können auch Risiken einhergehen. Wir beraten deshalb sehr tiefgreifend“, erklärt Küchler mir. So müsse zum Beispiel über psychosoziale Konsequenzen einer Testung gesprochen werden. „Es gibt ja Erbkrankheiten, wie beispielsweise Chorea Huntington, die genetisch bedingt und nicht heilbar sind, aber erst im mittleren Alter auftreten. Zu wissen, dass man daran erkranken wird, ist belastend und kann das gesamte weitere Leben verändern“, so Küchler. Außerdem können bei der genetischen Untersuchung Zufallsbefunde auftauchen, über die man sich im Zweifel Gedanken machen muss.
Ich jedenfalls bin neugierig geworden. Die Tragweite einer Genmutation in meinem Fall empfinde ich allerdings als gering. Von Küchler erfahre ich nämlich, dass ich als Anlageträgerin für das Syndrom zwar ein erhöhtes Risiko für einen Grünen Star habe und auch die Variante weitervererben kann. Dass aber meine potenziellen Kinder am Syndrom erkranken, ist sehr unwahrscheinlich. „Da die Vererbung autosomal-rezessiv erfolgt, müsste der Kindsvater auch Anlageträger sein“, erklärt Küchler. „Und selbst dann gibt es, wenn vom Paar gewünscht, immer noch Optionen wie eine Pränatal- oder eine Präimplantationsdiagnostik.“
Mittlerweile dauert unser Gespräch eine gute Stunde. Als ich keine Fragen mehr habe, bin ich mir sicher, dass ich mich untersuchen lassen möchte. Ich unterschreibe eine Einverständniserklärung und lasse mir von Küchler Blut abnehmen. Für das Team der Humangenetik geht jetzt die Arbeit erst so richtig los, während ich gespannt auf die Ergebnisse warte.
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