KLEINGÄRTEN
WARUM DIE RUHRPOTTLER KLEINGÄRTEN LIEBEN
Kleingärten gehören zum Ruhrgebiet wie Currywurst und Fußball. Über die tiefe Liebe und den neuen Boom einer besonderen Gartenform.
TEXT: CAROLIN DIEL
FOTOS: JAN LADWIG

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten
Rainer Weddeling sitzt auf seinem Lieblingsplatz, dem Stuhl unter dem Apfelbaum. Von hier hat er den besten Blick über sein Reich. Alles, was er sieht, hat er selbst erschaffen: den Teich, die Gartenlaube mit der großzügigen Terrasse, die Rhododendronhecken, die drei Obstbäume auf der Wiese. 296 Quadratmeter grüne Idylle mitten im Ruhrgebiet. Zwei bis drei Stunden ist er jeden Tag hier, um sich „auf meinem kleinen Fleckchen Erde auszuleben und von der Natur inspirieren zu lassen“, wie er sagt.
Weddelings Garten ist einer von 8.627 Kleingärten in Essen. Das Ruhrgebiet gehört zu den Regionen mit der höchsten Kleingartendichte in Deutschland. Kleingärten gehören hier zur Kultur wie Currywurst und Fußball. Sie haben Tradition. Aber woher kommt diese Liebe der Pottbewohner zur Parzelle? Und warum nimmt die Bedeutung der Kleingärten in den letzten Jahren sogar weiter zu?
Geschichte der Kleingärten im Ruhrgebiet
Ein Blick zurück in die Geschichte: Im 19. Jahrhundert entstanden die ersten Kleingartenanlagen als Reaktion auf die sozialen Missstände der Industrialisierung wie Mangelernährung, beengte Wohnverhältnisse und Armut. In Industriehochburgen wie dem Ruhrgebiet begannen vor allem große Arbeitgeber wie Krupp, Hoesch oder Zechengesellschaften Land zur Selbstversorgung und Erholung an ihre Arbeiter zu verpachten. Aus vielen dieser Flächen wurden später Kleingartenanlagen. Auch die Kleingartenanlage des KGV Essen-Altendorf, dem Rainer Weddeling vorsteht, hat hier ihren Ursprung.
Inzwischen umfasst sie 569 Gärten in ganz Essen und ist damit eine der größten Anlagen der Stadt. In Weddelings Kolonie an der Schluchtstraße befinden sich 38 Parzellen – und keine gleicht der anderen. In Nummer 3 umgeben Kirschlorbeerhecken und Rosen einen akkurat gestutzten englischen Rasen. In Nummer 4 wachsen Nutzpflanzen und Wildblumen wild durcheinander, ein Schild weist darauf hin, dass hier ein „artenreiches Biotop“ entsteht. In Nummer 7 reiht sich Gemüsebeet an Gemüsebeet.
Drang nach draußen
Ob die Menschen im Ruhrgebiet einen besonderen Bezug zum Kleingarten haben? Davon ist Weddeling überzeugt, aus zwei Gründen: Erstens die Historie, zweitens die immer noch sehr beengten Wohnverhältnisse im Pott. „Viele Häuser haben nicht einmal einen Balkon. Da haben Viele den Drang nach draußen, zum Ausgleich vom täglichen Leben“, so der passionierte Kleingärtner.

Ein Alleinstellungsmerkmal des Ruhrgebiets sei das jedoch nicht, betont Heike Gerth-Wefers. „Gartenparzellen sind immer dort besonders beliebt, wo die Leute in dichten Städten und Wohnquartieren leben. Da unterscheidet sich das Ruhrgebiet nicht von anderen deutschen Großstädten“, so die Stadtentwicklerin und Sozialforscherin, die sich bereits seit 15 Jahren mit dem Thema Kleingärten beschäftigt.
Eine besondere Bedeutung bekämen Kleingärten auch immer dann, wenn sich viele Menschen kein Eigentum mit Garten oder Balkon leisten können, so Gerth-Wefers. Im Ruhrgebiet ist der Anteil an Mietwohnungen im Vergleich zum Rest Deutschlands überdurchschnittlich hoch, in Essen liegt er bei 70 Prozent. Mietwohnungen mit eigenem Grün sind besonders rar und begehrt.
Insektenhotel statt Gartenzwerg
Das musste auch Bernadette Schröder erfahren. Gerne hätte sie eine Wohnung mit Garten gehabt. Doch als sie letztes Jahr mit ihrer Familie nach Essen-Schönebeck zog, fand sie nur eine mit Balkon. „Ich gehöre noch zu der Generation, die den ganzen Nachmittag draußen gespielt hat, auf Bäume geklettert und erst wieder nach Hause gegangen ist, als die Straßenlaternen angingen“, erzählt die Projektmanagerin am Universitätsklinikum Essen. Für sie ist klar: Ihre jetzt neun Monate alte Tochter soll unbedingt mit Garten aufwachsen. Im Oktober 2021 bekommt Schröder mit viel Glück einen Garten im KVG Essen-Altendorf. Jetzt sitzt sie mit ihrer Parzellennachbarin Mona Fey in deren Garten.
Die beiden Frauen haben sich zum gemeinsamen Frühstück vor Feys Laube verabredet. Es gibt selbstgebackenes Brot, Radieschen aus dem Eigenanbau und Kaffee mit Hafermilch. Über dem Tisch flattert eine Girlande mit bunten Wimpeln, der Wind rauscht in den Blättern der Obstbäume. Fey stieß knapp ein halbes Jahr nach Schröder zur Kolonie. Die beiden Frauen sind die „Nesthäckchen“ des Vereins, wie sie sagen.
Sie sind aber nicht nur jünger als die meisten anderen Vereinsmitglieder, sie haben auch eine andere Art ihren Garten zu gestalten. „Bei mir wird’s keinen englischen Rasen geben“, sagt Fey. Stattdessen plant sie einen naturnahen Nutzgarten. Insektenhotel statt Gartenzwerg. Einen Komposter und eine Regenwassertonne hat sie bereits installiert, Erdbeerpflanzen gesetzt, die Johannis- und Himbeerbüsche ihres Vorgängers weitergepflegt.


Doch Fey, Schröder und viele andere junge Menschen suchen mit einem Kleingarten im Ruhrgebiet nicht nur die Möglichkeit trotz Großstadt nachhaltiger und naturnäher zu leben. Sie wollen auch eine Gemeinschaft finden, sich ein Stück Heimat schaffen. „Weil ich in meinem Kleingarten Wurzeln in die Erde setze, fühle ich mich hier selbst mehr verwurzelt“, sagt die gebürtige Rheinländerin Fey.
Kleingärten fördern Gemeinschaft – und Umweltschutz
Im Kleingartenverein habe sie zudem ein Netzwerk gefunden, das sie anderswo lange gesucht habe. Auch Schröder – gebürtige Bremerin, langjährige Münsteranerin und seit acht Jahren im Ruhrgebiet – sieht in der offenen und kommunikativen Art der Ruhrpottler und ihrer Liebe zum Kleingarten einen Zusammenhang: „Hier gibt es noch so eine Kumpelmentalität. Man trifft sich, man hilft sich. Da herrscht ein anderes Gemeinschaftsgefühl.“
Um Gemeinschaft geht es bei den Kleingärten im Ruhrgebiet aber nicht nur innerhalb der Mitgliederschaft der Vereine. Städte wie Essen oder Dortmund erkennen immer mehr, dass Kleingärten nicht nur für die Pächterinnen und Pächter, sondern auch für die ganze Stadtgemeinschaft von Nutzen sind. Zum Beispiel im Sinne des Klimaschutzes, denn Grünflächen kühlen die Luft in der Stadt ab, erklärt Landschaftsarchitekt und Ökologe Detlev Emkes: „Je größer und zusammenhängender dabei die Grünflächen, desto größer die Wirkung.“
Zudem tragen Kleingärten nicht unwesentlich zum Artenschutz bei. Anders als Parks oder andere städtische Grünflächen sind Kleingärten oft vielfältiger bepflanzt und bieten so zum Beispiel Insekten eine bessere Nahrungsgrundlage. „Die Stadtverwaltungen betrachten die Kleingärten immer mehr als Teil des Stadtentwicklungskonzepts und nicht mehr nur als Bedarfsflächen für Bauvorhaben“, erklärt Emkes.
Kleingärten als Teil der Stadtentwicklungskonzepte
Für Essen hat er daher gemeinsam mit dem Stadtverband der Kleingärtnervereine Essen bis 2021 ein Kleingartenentwicklungskonzept entwickelt, um die Potenziale der Gärten zu ermitteln. Das Ergebnis: Kleingärten leisten, besonders, wenn sie mit anderen Grünflächen der Stadt zusammen gedacht werden, einen wesentlichen Beitrag für eine lebenswerte Stadt.
Letztlich hat das Interesse der Städte an den Kleingärten auch noch einen anderen, sehr schlichten Grund: der riesige Bedarf. „Schon vor Corona hatten wir in Essen 750 Bewerber auf knapp 50 freie Gärten. Jetzt haben wir das Vier- bis Fünffache an Nachfrage“, sagt der Vorstand des Stadtverbands der Kleingärtnervereine Essen, Holger Lemke. Wie nachhaltig diese Nachfrage über die Pandemie hinaus ist, wird sich noch zeigen. Trotzdem steht fest: Kleingärten sind so beliebt wie lange nicht mehr.
Und für die Menschen im Pott ist es dann zumeist auch eine Liebe fürs Leben. Verbandsvorsitzender Lemke hat seinen Garten seit über 30 Jahren, sein Schwiegervater seinen seit über 60. Vereinsvorstand Weddeling ist seit 13 Jahren Kleingärtner. Und auch Bernadette Schröder und Mona Fey fühlen sich in ihren Parzellen zu Hause und planen in weite Zukunft. Als sie den Vertrag zur Kleingartenpacht unterschrieb, schoss Fey ein Gedanke durch den Kopf: „Jetzt biste wohl richtig im Pott angekommen.“
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