ARZTMOBIL
NICHT WARTEZIMMER-KOMPATIBEL
Obdachlose werden in Deutschland durchschnittlich nur 49 Jahre alt. Das liegt auch daran, dass Menschen ohne festen Wohnsitz und Suchterkrankte oft nur schlecht medizinisch versorgt werden. Das Arztmobil der GSE Gesellschaft für Soziale Dienstleistungen Essen soll diese Lücke in Essen schließen – eine Herausforderung.
TEXT: CAROLIN DIEL
FOTOS: JASPER WALTER BASTIAN
Unterwegs mit dem Arztmobil
Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten
Ein Grüppchen Menschen hat schon die ersten Bierflaschen geöffnet, auf den Parkbänken verstecken junge Männer ihren glasigen Blick hinter den Kapuzen farbloser Pullover, der Spielplatz ist verlassen: Der Waldthausenpark in Essen an einem Dienstagmorgen, nur wenige Schritte vom Dom, den Einkaufspassagen und dem Hauptbahnhof entfernt. Montag bis Freitag parkt Ursula Schürks hier vormittags ihr Arztmobil. Ihre Patienten, sagt sie, leben am Rand der Gesellschaft. Tatsächlich aber leben sie mittendrin, mitten in Essen. Nur bleiben sie für viele unsichtbar.
Für Schürks ist es selbstverständlich, an die Orte zu gehen, die andere meiden und sich um die Menschen zu kümmern, von denen andere sich beschämt abwenden. Nachdem sie ihre Facharztausbildung am St. Josef-Krankenhaus Essen-Werden absolviert hatte, arbeitete sie unter anderem in einer Ebola-Klinik in Liberia und in einem Flüchtlingslager in Griechenland. Seit 2017 ist die 60-Jährige mit dem Arztmobil der GSE Gesellschaft für Soziale Dienstleistungen Essen im Einsatz für Wohnungslose und Suchtkranke. Seit 1996 gibt es die mobile Praxis bereits.
„Wenn Sie nicht ins Krankenhaus gehen, sterben Sie“
Der erste Patient wartet schon. Schürks kennt den mageren, jungen Mann mit den vielen Tattoos. Sie versorgt eine Wunde an seinem Bein, einen Abszess vom Spritzen. Ein Problem, das sie häufiger sieht. Denn viele Leiden ihrer Patienten kommen vom Drogenkonsum. Dann inspiziert Schürks sein Gesicht, das blau und geschwollen ist. „Damit müssen sie ins Krankenhaus, jetzt sofort!“, sagt Schürks bestimmt.
Eine Zahnentzündung, die sich ausgebreitet hat. Bleibt sie unbehandelt, kann sie aufs Gehirn übergreifen. „Das ist lebensgefährlich“, erklärt sie dem Mann. Doch der zögert. Schürks stellt ein paar ihrer Routinefragen: „Haben Sie heute schon konsumiert?“ „Ja.“ „Nur Alkohol oder mehr?“ „20 Gramm Methadon.“ „Sind Sie krankenversichert?“ „Nein.“ Er müsse noch seine Sachen bei einer Freundin abholen, erklärt der Patient. Wenn er nicht ins Krankenhaus gehe, sterbe er, erwidert Schürks: „Ganz egal, dass Sie nicht versichert sind. Das Taxi bezahlen wir Ihnen. Sie laufen nicht weg!“
Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten
Ein Grüppchen Menschen hat schon die ersten Bierflaschen geöffnet, auf den Parkbänken verstecken junge Männer ihren glasigen Blick hinter den Kapuzen farbloser Pullover, der Spielplatz ist verlassen: Der Waldthausenpark in Essen an einem Dienstagmorgen, nur wenige Schritte vom Dom, den Einkaufspassagen und dem Hauptbahnhof entfernt. Montag bis Freitag parkt Ursula Schürks hier vormittags ihr Arztmobil. Ihre Patienten, sagt sie, leben am Rand der Gesellschaft. Tatsächlich aber leben sie mittendrin, mitten in Essen. Nur bleiben sie für viele unsichtbar.
Unterwegs mit dem Arztmobil
Für Schürks ist es selbstverständlich, an die Orte zu gehen, die andere meiden und sich um die Menschen zu kümmern, von denen andere sich beschämt abwenden. Nachdem sie ihre Facharztausbildung am St. Josef-Krankenhaus Essen-Werden absolviert hatte, arbeitete sie unter anderem in einer Ebola-Klinik in Liberia und in einem Flüchtlingslager in Griechenland. Seit 2017 ist die 60-Jährige mit dem Arztmobil der GSE Gesellschaft für Soziale Dienstleistungen Essen im Einsatz für Wohnungslose und Suchtkranke. Seit 1996 gibt es die mobile Praxis bereits.
„Wenn Sie nicht ins Krankenhaus gehen, sterben Sie“
Der erste Patient wartet schon. Schürks kennt den mageren, jungen Mann mit den vielen Tattoos. Sie versorgt eine Wunde an seinem Bein, einen Abszess vom Spritzen. Ein Problem, das sie häufiger sieht. Denn viele Leiden ihrer Patienten kommen vom Drogenkonsum. Dann inspiziert Schürks sein Gesicht, das blau und geschwollen ist. „Damit müssen sie ins Krankenhaus, jetzt sofort!“, sagt Schürks bestimmt. Eine Zahnentzündung, die sich ausgebreitet hat. Bleibt sie unbehandelt, kann sie aufs Gehirn übergreifen. „Das ist lebensgefährlich“, erklärt sie dem Mann. Doch der zögert. Schürks stellt ein paar ihrer Routinefragen: „Haben Sie heute schon konsumiert?“ „Ja.“ „Nur Alkohol oder mehr?“ „20 Gramm Methadon.“ „Sind Sie krankenversichert?“ „Nein.“ Er müsse noch seine Sachen bei einer Freundin abholen, erklärt der Patient. Wenn er nicht ins Krankenhaus gehe, sterbe er, erwidert Schürks: „Ganz egal, dass Sie nicht versichert sind. Das Taxi bezahlen wir Ihnen. Sie laufen nicht weg!“


Dass der Patient trotz des Ernstes der Lage erstmal wieder zu seiner Parkbank geht, wundert Schürks nicht. Sie versteht die Sorgen der Wohnungslosen und Suchtkranken. Ein Gang zur Notaufnahme oder zu einem Arzt könnte bedeuten, dass man einen hart umkämpften Schlafplatz verliert, jemand die überlebenswichtigen Habseligkeiten – Decke, Kleidung, Schlafsack – stiehlt oder man nicht an seine Drogen kommt. „Die eigene Gesundheit rückt in der Prioritätenliste nach unten, weil andere Bedürfnisse für diese Menschen viel existenzieller sind oder ihnen zumindest so erscheinen“, sagt Schürks.
Halb Arzt, halb Sozialarbeiter
Der Patient mit der Zahnentzündung habe einfach Angst vor einem kalten Entzug. Daher vermerkt sie auf der Kliniküberweisung, dass man ihm bitte 40 Gramm Methadon, einen legalen Ersatzstoff für Heroin, verabreichen solle. Dann telefoniert sie mit einer Sozialarbeiterin, um ihn wieder in eine Krankenversicherung zu holen.
Solche Hilfestellungen, die über die medizinische Versorgung hinausgehen, gehören zum Job, erklärt Stefanie Löhr, Medizinische Fachangestellte im Arztmobil. Sie und Schürks vermitteln regelmäßig Schlafplätze, organisieren warme Kleidung und stehen in Kontakt mit Versicherungen und Behörden. „Wir sind eigentlich jeden Tag halbe Sozialarbeiter“, so Löhr. Das Grundprinzip des Arztmobils: Die Lebensumstände sollen nicht der Grund sein, warum ein gesundheitliches Problem nicht gelöst werden kann.
Wenn Probleme unsichtbar bleiben
In der Realität sieht es oft anders aus, weiß Joachim Nehring. Seit Jahren geht er regelmäßig zum Arztmobil. Heute stoppt der 52-Jährige hier, um sein aufgekratztes Ohr verarzten zu lassen. Auch solche vermeintlichen Kleinigkeiten versorgt Schürks häufig. Denn wer jeglicher Witterung – Hitze, Kälte, Nässe – oft schutzlos ausgeliefert ist und kaum Zugang zu Hygiene hat, bei dem wird eine offene Wunde schnell zur lebensgefährlichen Blutvergiftung und eine einfache Erkältung schnell zur Lungenentzündung. Nehring habe früher bei einem Sicherheitsdienst gearbeitet, erzählt er.
Dann stirbt seine Verlobte. Er fängt an zu trinken, bekommt Herzprobleme, verliert erst seinen Job, dann seine Wohnung. Vor acht Jahren ist er in einer Notunterkunft um die Ecke untergekommen. Er ist Pegeltrinker. Etwa vier Sixpacks Bier braucht er, um durch den Tag zu kommen. „Natürlich habe ich ein Alkoholproblem“, sagt er, „aber das ist eben nicht mein einziges Problem. Nur die anderen Gesundheitsprobleme sehen die Ärzte im Krankenhaus nicht.“
Letztlich sei der Großteil ihrer Patienten sogar krankenversichert und habe damit Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung im regulären System, sie fielen aber durchs Raster, weil sie einfach nicht „wartezimmerkompatibel“ seien, erklärt Schürks. Und der Grund dafür läge bei beiden Seiten, den Wohnungslosen und Suchtkranken wie den Gesundheitsdienstleistern.
Keine Missionierung
Bei Ersteren fehle die Fähigkeit, sich an die Regeln und Strukturen der Regelversorgung anzupassen, bei Letzteren das Verständnis für die besonderen Umstände dieses speziellen Patientenklientels. „Auch bei den Kollegen in den Kliniken oder Praxen ist ein Suchtkranker oft nur ‚der Junkie in Zimmer vier‘“, so Schürks.
Was es laut Schürks bräuchte, sei eine ganzheitliche und langfristige Unterstützung für die Menschen. Aber natürlich sei am Ende jeder selbst für sein Wohl verantwortlich, sagt sie: „Ich missioniere hier nicht.“ Zu sehen, dass viele ihrer Patienten teils über Jahrzehnte nicht aus ihrer schlechten Lebenssituation herauskommen, gehöre daher zum Job, betont Schürks: „Das muss ich aushalten. Ich habe kein Recht auf Selbstmitleid. Es geht nicht um mich, es geht um den Patienten.“ Sieben Patienten versorgen Schürks und Löhr an diesem Tag. Als das Arztmobil den Waldthausenpark verlässt, sitzt der Mann mit der Zahnentzündung immer noch auf seiner Parkbank.
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