INTERVIEW
WIE EIN UNGEWOLLTES FAMILIENMITGLIED
Nicht nur Patienten mit schweren Erkrankungen tragen eine Last. Auch ihre Angehörigen bringt die Krankheit in eine emotionale Ausnahmesituation. Wie geht man damit um, wenn enge Vertraute schwer erkranken? Ein Interview mit Psychotherapeutin Jessica Neumann.
INTERVIEW
WIE EIN UNGEWOLLTES FAMILIENMITGLIED
Nicht nur Patienten mit schweren Erkrankungen tragen eine Last. Auch ihre Angehörigen bringt die Krankheit in eine emotionale Ausnahmesituation. Wie geht man damit um, wenn enge Vertraute schwer erkranken?Ein Interview mit Psychotherapeutin Jessica Neumann.
FOTOS: UME, ISTOCK
DAS GESPRÄCH FÜHRTE: JULIA JANSEN

Jessica Neumann ist Psychologische Psychotherapeutin an der LVR-Universitätsklinik Essen.
Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten
Frau Neumann, was macht eine schwere Diagnose mit Angehörigen? Wir beobachten immer wieder, dass Angehörige nach der Diagnose lebensbedrohlicher Erkrankungen einer engen Bezugsperson mit ganz ähnlichen Symptomen reagieren wie der oder die Erkrankte selbst. Viele Angehörige empfinden erstmal große Angst, fühlen sich hilflos und ohnmächtig. Nicht ohne Grund werden Angehörige in Fachkreisen auch als „Sekundärpatientinnen und -patienten“ bezeichnet. Was ist das genau? Es gibt unterschiedliche Studien, die zeigen, dass Angehörige von schwerkranken Patientinnen und Patienten ein erhöhtes Risiko haben, schwerwiegende psychische Probleme zu entwickeln. Angehörige besitzen ungewollt eine Doppelrolle: Sie sind zum einen der engste unterstützende Part, gleichzeitig aber auch mitbelastet. Denn kranke Angehörige zu unterstützen, stellt eine enorme psychische Belastung dar. Trotzdem werden Angehörige von Schwerkranken in unserem Gesundheitssystem noch nicht richtig wahrgenommen. Zudem nehmen sie sich auch selbst kaum Zeit für ihre eigene Gesundheit. Gerade Paare und Familien stehen häufig vor großen Umbrüchen, weil die alte Rollenverteilung plötzlich nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Was ist dann wichtig? Eine schwere Erkrankung kann sich manchmal wie ein ungewolltes neues Familienmitglied anfühlen, das alle zum Rollenwechsel zwingt. Wenn sich ein Teenager plötzlich um die kranke Mutter kümmern muss oder der Hauptverdiener mit einem Mal nicht mehr arbeiten kann, ist eine klare Kommunikation innerhalb des Familiensystems ohne Vorwürfe sehr wichtig. Hierbei sollte man versuchen, die Bedürfnisse aller Familienmitglieder im Blick zu behalten und eine gemeinsame Lösung für die Konflikte zu finden. Warum ist es so schwer, die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren? In der Praxis lässt sich immer wieder beobachten, dass Angehörige nach der Diagnose einer schweren Erkrankung eines nahestehenden Menschen dazu neigen, sämtlichen Freuden zu entsagen. Nach einer Chemotherapie kann es für den Partner zu einer Belastung werden, wenn der Kranke unter Schmerzen leidet. Dies kann dazu führen, dass soziale Aktivitäten wie Treffen mit Freunden oder kurze Spaziergänge als unangemessen empfunden werden. Immer gibt es etwas, das für den Kranken zu erledigen ist, oder einen Arzttermin, der abgewartet werden muss. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass Schuldgefühle nicht unmittelbar aufkommen, wenn sich Angehörige auch einmal etwas gönnen. Wie gelingen Pausen? In der Sprechstunde wird Angehörigen und Patienten stets empfohlen, feste Zeiten für Erholung einzuplanen. Selbstredend muss es sich nicht zwangsläufig um ein Wellness-Wochenende handeln. Eine Runde durch den Park, ein Treffen mit Freunden oder ein Eisbecher reichen manchmal schon aus. Für Angehörige, die von Schuldgefühlen geplagt werden, kann es hilfreich sein, die Perspektive zu wechseln und sich vorzustellen, welche Wünsche sie für ihren Angehörigen hegen würden, wenn sie selbst schwer erkrankt wären. Dem Erkrankten hilft es ohnehin sehr, wenn der pflegende Angehörige selbst psychisch stabil bleibt.

Studien zeigen, dass rund ein Drittel aller Angehörigen eine psychotherapeutische Unterstützung bräuchten. Wann sollten sie sich in Ihrer Angehörigensprechstunde beraten lassen? Leider neigen viele Angehörige dazu, ihre eigenen Bedürfnisse hinter denen der oder des Erkrankten zurückzustellen und suchen erst sehr spät Unterstützung. Typische Warnsignale sind vermindertes Freudempfinden, Interessenverlust, sozialer Rückzug sowie starke Erschöpfung. Auch wenn Angehörige anfangen, alltägliche Handlungen wie Einkaufen oder Autofahren aus Angst zu vermeiden, kann eine Beratung in der Sprechstunde oder der Besuch unserer Angehörigengruppe hilfreich sein. Welche Möglichkeiten haben Erkrankte, die sich um ihre pflegenden Angehörigen sorgen? Viele Menschen haben nach einer lebensbedrohlichen Diagnose keine Kapazitäten, sich um ihre Angehörigen zu kümmern. Das ist auch okay, dafür sind wir Expertinnen und Experten mit unseren Angeboten wie der Angehörigensprechstunde und der Angehörigengruppe da. Wenn die Erkrankten dennoch dazu in der Lage sind, hilft oft schon ein offenes Gespräch, in dem deutlich gemacht wird, wie wichtig einem die Gesundheit und die Lebensfreude des Angehörigen sind. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass für eine erfolgreiche Krankheitsbewältigung ein gewisses Maß an Verständnis für die Situation des anderen und eine positive Aufmerksamkeit für die eigenen Bedürfnisse und die des anderen notwendig sind.
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Angebote für Angehörige
Die Ambulanz der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der LVR-Universitätsklinik Essen bietet Angehörigen von schwerkranken Menschen psychologische Beratungsangebote an. Mehr Informationen erhalten Sie über das Ambulanzsekretariat unter: 0201 - 438 755 100
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