FRÜHCHEN
GRENZERFAHRUNG FRÜHGEBURT
Eltern von Frühchen stehen vor einer Reihe großer Herausforderungen. Die Universitätsmedizin Essen verfolgt ein besonderes Konzept, um sie zu unterstützen.
TEXT: CAROLIN DIEL
FOTOS: JENNIFER RUMBACH
TEXT: CAROLIN DIEL
FOTO: JAN LADWIG
Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten
Sie solle nicht auf den Monitor schauen, sondern auf ihr Kind, haben die Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte gesagt. Aber Giedre Jukneviciute kann es nicht lassen. Stundenlang starrt sie auf die bunten Linien, die zittrig über den dunklen Bildschirm flattern – als wären sie so nervös wie die junge Mutter. Wenn die blaue Linie unter 85 sinkt, weiß Jukneviciute, dass gleich der Alarm losgeht. Dann bekommt ihre Tochter zu wenig Sauerstoff, weil sie noch zu unreif ist, um regelmäßig selbstständig zu atmen. Die kleine Freyja ist erst wenige Wochen auf der Welt, aber sie hat schon hunderte solcher Situationen erlebt. Freyja ist ein Frühchen.
Rund sieben Prozent aller Neugeborenen werden in Deutschland jedes Jahr als Frühchen, also mindestens drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin mit einem Gewicht von unter 2.500 Gramm, geboren. Für diese Kinder beginnt damit eine extreme körperliche Belastung: eine Weiterentwicklung außerhalb des Uterus. Das geht nur auf einer Intensivstation mit einem wochenlangen Klinikaufenthalt und birgt viele Risiken für gesundheitliche Spätfolgen, die sie auch nach der Entlassung noch begleiten.
Kein Organ ist zum Zeitpunkt der Frühgeburt fertig entwickelt und ausgereift. Aber auch für die betroffenen Eltern ist eine Frühgeburt eine Belastung, vor allem psychisch. Um sie in den schwierigen ersten Lebensmonaten ihres Kindes zu unterstützen, hat die Universitätsmedizin Essen (UME) ein besonderes Team zusammengestellt: das Team Frühstart/Kindernachsorge.
Die Geschichte von Familie Peter
Rundumbetreuung: Vom Bauch bis ins Kinderzimmer
„Das Problem ist, dass Eltern von Frühchen ihr Kind nicht wie nach einer termingerechten Geburt direkt selbst versorgen können, sondern aufgrund der Unreife der Organe des Kindes – egal ob Lunge, Gehirn, Darm oder Haut – auf fremde Hilfe und viel Technik angewiesen sind. Damit gehen große Unsicherheiten einher“, erklärt Simone Leibold, stellvertretende Leitung des Teams Frühstart/Kindernachsorge. Je nachdem in welcher Phase sich die Eltern befinden – in der Zeit vor und unmittelbar nach der Geburt, im stationären Aufenthalt oder in den Wochen beziehungsweise Monaten nach der Entlassung – ändern sich auch ihre Sorgen.
Um den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, teilt sich die Arbeit des 16-köpfigen Teams in vier Teilbereiche auf: die psychosoziale Elternberatung, die familienzentrierte Pflege, das Entlassmanagement sowie die sozialmedizinische Nachsorge. So bietet das Team Frühstart/Kindernachsorge zusätzlich zur medizinisch-pflegerischen Versorgung eine Rundumbetreuung „vom Bauch bis ins Kinderzimmer“.
Die Frühchenintensivstation: Zeit der Unsicherheit
Das Gefühl der Unsicherheit kennt auch Lisa Peter*. Sie ist erst in der 22. von regulär 40 Schwangerschaftswochen (SSW), als ihre Hebamme die Befürchtung äußert, sie könne vielleicht eine Frühgeburt haben. „Ab diesem Zeitpunkt war meine Schwangerschaft überschattet von der Angst, was auf meine Tochter zukommt“, erzählt die 33-Jährige. Als sie sich an der UME wegen der Schwangerschaftskomplikationen in Behandlung begibt, kümmert sich das Team Frühstart/Kindernachsorge sofort um sie. Ihre Sorgen bespricht sie mit der psychosozialen Elternberatung.
Eine Pflegefachperson der familienzentrierten Pflege führt Familie Peter durch die Frühchenintensivstation. Sie zeigt ihnen das Monitoringsystem und erklärt die intensivmedizinischen Geräte. An einer lebensechten Frühchenpuppe können die werdenden Eltern fühlen, wie weich der Sensor ist, der am Fuß ihrer Tochter den Blutdruck messen wird und sehen, dass der Schlauch einer Frühchen-Magensonde nicht dicker ist als ein Kopfhörerkabel. Das alles zu sehen und zu verstehen, habe ihr das Gefühl gegeben, vorbereitet zu sein, sagt Peter: „Wenn man es am eigenen Kind sieht, ist es immer noch schlimm. Aber das macht es aushaltbarer.“
*Name von der Redaktion geändert
Die Geschichte von Frühchen Freyja
Schulungen und Praxis-Tipps für Frühchen-Eltern
Um Stationsbesuche wie den von Familie Peter kümmert sich unter anderem Pflegefachperson Anke Ullrich. Der Großteil ihrer Arbeit fängt aber erst nach der Geburt an. Frühchen brauchen dann eine besondere Pflege, die viel Fachwissen erfordert. Früher blieb diese spezialisierten Pflegefachpersonen überlassen. Heute weiß man: Die Eltern aktiv in die Kindspflege einzubeziehen, fördert die Kindsentwicklung und hilft den Eltern, selbstsicherer dabei zu werden, die Bedürfnisse ihres Kindes richtig einzuschätzen.
„Die Eltern sollen nicht nur Statisten am Bett sein, sondern Teil des Teams werden“, so Ullrich. Dazu bekommen sie Schulungen und Praxisanleitungen. In bis zu 13 Modulen lernen die Eltern in Gruppen oder einzeln, was es im Umgang mit den Frühchen zu beachten gilt – von der ersten Annäherung bis hin zur Reanimation. Besonders wichtig seien dabei die Hygiene- und Ruheregeln, betont Ullrich. Denn Frühchen sind besonders anfällig für Infektionen und Stress. Laute Geräusche, Parfüm oder Schmuck sind daher tabu.
Känguruhen und Frühchenpflege
In der 31. SSW kommt die Tochter der Peters per Kaiserschnitt zur Welt. Vier Wochen bleibt sie im Krankenhaus, eine davon im speziellen Frühchen-Brutkasten, dem Inkubator. Hier wird die Umgebung im Mutterleib simuliert: ein abgeschlossener Raum, aufgewärmte und angefeuchtete Luft. In dieser Zeit kann Laura Peter ihre Tochter oft nur durch eine Plexiglasscheibe sehen.
Trotzdem wird von dem Tag der Geburt an den Eltern so viel Kontakt wie möglich mit ihrem Kind ermöglicht und ihnen unterschiedliche Wege zur Kontaktaufnahme beigebracht. Ein Beispiel ist das sogenannte Känguruhen, bei dem das Kind auf die nackte Brust von Vater oder Mutter gelegt wird, um durch engen Körperkontakt Vertrauen und eine enge emotionale Verbindung aufzubauen.
Mit dem Wechsel ins offene Wärmebettchen schwinden auch immer mehr anfängliche Berührungsängste bei den Eltern. Bald übernehmen sie einen großen Teil der Kindspflege selbstständig, bis hin zu pflegerischen Aufgaben wie dem Ernähren über die Magensonde. „Dann hat sich die Kleine eines Tages ihre Magensonde mit ihren winzigen Fingerchen einfach selbst gezogen“, erzählt Peter lachend, „das war ein Zeichen, dass sie nach Hause will.“

Nach der Entlassung aus der Klinik
Die Entlassung sei für viele Eltern nochmal ein kritischer Punkt, weiß Anke Ullrich vom Team Frühstart/Kindernachsorge: „Über Wochen hatten die Eltern bei uns jederzeit einen Ansprechpartner, dann sind sie plötzlich auf sich allein gestellt.“ Daher wird dieser Moment gut vorbereitet: Ein spezielles Entlassmanagement wird angeboten, Organisatorisches wie Anschlussversorgungen, Termine, Hilfsmittel und Therapien koordiniert, Anleitungen intensiviert und am Tag der Entlassung ein letztes Gespräch geführt. Mit der Entlassung beginnt für das Team Frühstart/Kindernachsorge die dritte Phase der Elternbegleitung: die ersten Monate allein zu Hause. Hier übernehmen die Kolleginnen der sozialmedizinischen Nachsorge, zum Beispiel Anette Lang.
Vier- bis sechsmal die Woche ist sie auf Hausbesuch bei verschiedenen Familien. Sie schaut sich die Kleinen, genau an, wiegt sie und beobachtet, wie sie essen oder sich bewegen. Zudem hilft sie bei Organisatorischem. „Was Frühchen-Eltern allein hinsichtlich der Logistik an Mehraufwand betreiben müssen, ist Wahnsinn“, so Lang. Ihr Ziel sei daher vor allem: „So zu unterstützen, dass sie trotz der kleinen Intensivstation, die sie manchmal mit nach Hause nehmen, eine normale Familie sein können.“ Bei Fragen steht Lang stets in Kontakt mit PD Dr. Britta Hüning, ärztliche Leitung des Teams Frühstart/Kindernachsorge. Hüning sieht die Frühgeborenen in der entwicklungsneurologischen Sprechstunde in der Regel bis zur Einschulung.
Eine Intensivstation im Kinderzimmer
Eine kleine Intensivstation im Kinderzimmer, das ist auch für die Familie von Freyja lange Zeit die Realität. Freyja wird mit gerade mal 690 Gramm am ersten Tag der 25. SSW geboren. Wären es nur wenige Tage früher gewesen, hätte man sie nicht intensivmedizinisch versorgt. Fünf Monate muss sie in der Klinik bleiben. Auch die ersten Monate zu Hause wird sie per Monitor überwacht, braucht ein unterstützendes Atemgerät und eine Magensonde. In dieser Zeit lebt die Familie faktisch im Kinderzimmer, erzählt ihre Mutter Gierde Jukneviciute.
Die ersten Wochen unterstützt ein Pflegedienst die Familie. Obwohl Freyja sich gut entwickelt, fällt es den jungen Eltern schwer, von der Extremsituation Frühgeburt wieder zur Normalität zu finden. „Wir haben lange nur von Tag zu Tag gelebt“, erklärt Jukneviciute. An die Zukunft denken – das musste die Mutter erst wieder lernen. „Anette war in dieser Zeit unser Schutzengel“, sagt sie. „Wann immer es ein Problem gab, war sie erreichbar.“
Heute ist Freyja knapp ein Jahr alt. Ihren schwierigen Start ins Leben sieht man ihr nicht an. Quicklebendig krabbelt sie durchs heimische Wohnzimmer. Das Atemgerät braucht sie nicht mehr, der Monitor überwacht sie nur noch nachts. Anette Lang ist heute das letzte Mal zu Besuch. Sie wird nicht mehr gebraucht. „Alles, was man erlebt hat, spielt natürlich noch eine Rolle“, sagt Giedre Jukneviciute, „vielleicht macht man sich auch mehr Sorgen als andere Eltern.“ Aber mit der Hilfe des Teams Frühstart/Kindernachsorge sei sie immer mutiger geworden. Von der Couch aus beobachtet sie ihre Tochter lächelnd. Der Monitor liegt unbeachtet in der Ecke.
Diesen Artikel teilen