LONG COVID

HUNGRIG NACH LUFT


Wenn Wäscheholen zum Marathon wird: Zwei Physiotherapeutinnen am Universitätsklinikum Essen helfen Long Covid-Patienten, wieder zu Atem zu kommen.

TEXT: CAROLIN DIEL

FOTOS: JAN LADWIG

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Knapp einen Zentimeter schwebt Leonie Renzewitz‘ Hand über der Bauchdecke ihrer Patientin. „Weiter, weiter, weiter“, feuert die Physiotherapeutin die junge Frau an. Die Luft ist warm und stickig in Behandlungsraum 4, der Sommer gibt an diesem Herbsttag nochmal alles. Patientin Linda Söchtig auch. Sie holt noch mehr Luft, ihr Bauch hebt sich langsam, dann berührt er endlich die Handfläche. Ruhig ausatmen. Pause. Und nochmal. Nach drei Wiederholungen ist die Therapeutin zufrieden und die Patientin völlig erschöpft. Seit letztem Oktober ist jeder tiefe Atemzug für Söchtig ein Kraftakt. Seit sie sich mit Corona infizierte.

Rund 20.000 Atemzüge macht ein gesunder Mensch am Tag. Das kontinuierliche Ein und Aus passiert unbewusst. Erst, wenn wir aus der Puste kommen, nehmen wir unsere Atmung wahr – oder wenn etwas mit ihr nicht stimmt. So wie bei vielen Long Covid-Patienten. Über drei Viertel der in der Post Covid-Ambulanz am Universitätsklinikum Essen betreuten Corona-Genesenen sind von Atemproblemen betroffen. 20 von ihnen werden seit Juni im Rahmen einer Studie von Leonie Renzewitz und ihrer Kollegin Anja Kornblum-Hautkappe physiotherapeutisch betreut.

„Als hätte ich das Atmen neu gelernt.

Linda Söchtig

Die meisten sind junge Patienten unter 35 Jahren. Ihre Covid-Verläufe waren mild, liegen oft mehrere Monate zurück. Nur ein Patient war im Krankenhaus, beatmet wurde keiner. Das gibt der Medizin und auch den Therapeutinnen Rätsel auf. „Die Werte dieser Patienten – Lungenfunktion, Sauerstoffwert oder Röntgenbilder – sind in der Regel unauffällig. Es gibt keine nachweisbaren Lungenschäden“, erklärt Anja Kornblum-Hautkappe. Einzig Belastungstests zeigen, dass die Patienten weit weniger belastbar sind, als sie es gemäß ihres Alters und Fitnesszustands sein müssten.

Ausdauersport ist undenkbar Was das im Alltag bedeutet, weiß Patientin Linda Söchtig. „Wenn ich die Wäsche aus dem Keller hole, brauche 15 bis 20 Minuten, bis ich wieder bei Atem bin“, so die 24-Jährige. Nach der Arbeit übermannt die Gesundheits- und Krankenpflegerin die Erschöpfung. Ausdauersport wie zum Beispiel Joggen ist undenkbar. Als Söchtig Anfang Juni zu Renzewitz in die Therapie kommt, zeigt sie im Belastungstest eine Ruheatmung von 18 Atemzügen pro Minute, normal sind bis zu 16. Der Befund ergibt: Luftnot bei Belastung, Atmung vermehrt in die Brust statt in den Bauch und durch den Mund statt durch die Nase. Dazu kommt ein Phänomen, das Renzewitz „Lufthunger“ nennt: „Das permanente Gefühl, nicht genug Luft holen zu können.“ Alles typische Symptome für Long Covid-Patienten.

„Es wirkt, als hätten sich die Patienten in der akuten Krankheitsphase unbewusst ein anderes Atemmuster angewöhnt“, sagt Renzewitz. In der Therapie gelte es nun, dem Gehirn die normale Atmung wieder anzutrainieren, „die Festplatte zu überschreiben“. Dafür müsse zunächst ein Bewusstsein für die eigene Atmung geschaffen werden. Zusätzlich helfen manuelle Handgriffe, die Zwerchfellbeweglichkeit und -kraft wieder zu verbessern. Dann arbeiten die Patienten mit Übungen an Atemtiefe, -frequenz und -rhythmus. Immer wieder – in der Behandlung mit dem Therapeuten, aber auch zu Hause allein. Denn erst durch vielfache Wiederholungen, wird das normale Atemmuster wieder automatisiert. Therapeutin Anja Kornblum-Hautkappe ist optimistisch, dass Atembeschwerden so wieder ganz verschwinden können. Die bisherigen Erfahrungen mit den Patienten geben ihr Recht.

„Es ist ein wenig so, als hätte ich das Atmen neu gelernt“, sagt Patientin Söchtig. Bereits nach zwei Therapieeinheiten hat sich ihre Ruheatmung nach dem Belastungstest auf neun Atemzüge die Minute halbiert. Komplett fit fühlt sie sich noch nicht, aber: „Ich kann aus meiner Atmung endlich wieder Energie schöpfen. Und wenn ich merke, mir bleibt die Luft weg, weiß ich zumindest, wie ich meine Atmung mit einfachen Übungen selbst wieder beruhigen kann.“ Für Renzewitz ist das eines der wichtigsten Ziele der Atemtherapie: „Luftnot ist mit die existenziellste Angst, die man erleben kann. Wir geben den Patienten eine Art Werkzeugkasten, mit dem sie sich selbst helfen können. Das gibt Sicherheit – und das ist viel Wert!“

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Beschwerden, die nach einer Covid-Infektion bleiben, werden unter dem Begriff „Long Covid“ zusammengefasst. In einer Broschüre informiert die Universitätsmedizin Essen darüber, welche Symptome auftreten können, wie man sie behandeln kann und was dahinterstecken könnte.

Zur Broschüre


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