START-UPS

POTT VOLLER IDEEN


Eine Therapie-App bei Tinnitus, ein Therapieball für Demenzerkrankte oder Kurse zur Online-Physiotherapie – aus dem Ruhrgebiet kommen gute Ideen. Dahinter stecken Start-ups, die mit smarten Anwendungen das Gesundheitswesen revolutionieren.

TEXT: ROYA PIONTEK

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Gesundheit zum Reinklicken

Weiterführende Informationen zu den Gesundheitslösungen gibt es online:

ichó: icho-systems.de/therapieball Kalmeda: kalmeda.de Nextphysio: nextphysio.de

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Blau, gelb, lila – bei jeder Bewegung wechselt der ichó-Ball seine Farbe. Dreht man ihn, spielt er Tiergeräusche ab und auch als Drehorgel kann man ihn einsetzen. „Auf die Idee für den Ball kam einer aus unserem Gründungsteam während seines Kommunikationsdesign-Studiums“, erzählt Alkje Stuhlmann, COO bei agora, dem Start-up hinter dem ichó-Ball. „In seiner Familie gab es Großeltern mit Demenz und bei der Suche nach Möglichkeiten, wie man deren kognitive und motorische Fähigkeiten wieder aktivieren konnte, entstand das Konzept für ichó.“ Der Auftakt für eine lange Reihe von Versuchsbällen, bis ichó seine heutige Form hatte: etwas kleiner als ein Handball und mit einer geriffelten Oberfläche. Mittlerweile wird der Ball sogar bei der Therapie von mehrfachbehinderten Kindern angewandt und weitere Einsatzmöglichkeiten – zum Beispiel bei Schlaganfallpatientinnen und -patienten – sind in der Erprobung.

Erfunden von Kreativen und technischen Entwicklern, stets im engen Austausch mit Pflegefachpersonal, Medizinern und Start-up-Inkubatoren – damit ist ichó ein klassisches Gesundheits-Start-up. Inklusive der Hürden, die ein junges Unternehmen meistern muss. Stuhlmann: „Neben dem Zugang zum stark regulierten Gesundheitsmarkt, war und ist die Programmierung und Produktion nach wie vor eine Herausforderung. Schließlich fertigen wir ichó derzeit noch selbst in unseren Räumen in Duisburg.“ Entsprechend ist das Produkt eher hochpreisig und bislang vor allem als Anschaffung durch Pflegeeinrichtungen geeignet. „Wir arbeiten aber an einem Mietmodell für Menschen daheim“, berichtet Stuhlmann. Keine Sorgen macht sich das mittlerweile 11-köpfige Team ums Wachstum. Bereits mehrfach bei Ideenwettbewerben ausgezeichnet, hält ichó in immer mehr Pflegeeinrichtungen Einzug. Stuhlmann: „Hier zahlt sich unser Standort im infrastrukturell starken Ruhrgebiet echt aus – Vernetzung und Empfehlung funktionieren hier sehr gut.“

Etwa

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BESCHÄFTIGTE

im Ruhrgebiet arbeiten an der Schnittstelle von Digitalisierung und Gesundheitssektor.

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PROZENT

aller Start-ups im Ruhrgebiet kommen aus dem Bereich Gesundheit.

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PROZENT

aller deutschen Start-ups werden im Ruhrgebiet gegründet, nur in Berlin sind es mehr.

Ein gutes Netzwerk hilft auch Dr. Uso Walter. Er hat als Hals-Nasen-Ohren-Arzt mit Kalmeda eine App konzipiert, die bei Tinnitus hilft. „Tinnitus ist keine Erkrankung des Ohrs, sondern Kopfsache – und hier kann eine App sukzessive bei der Verhaltensänderung helfen“, erklärt Walter den Kerngedanken. Mit zwei Partnern und parallel zum Dienst in seiner Praxis hat er Kalmeda entwickelt und im vergangenen Jahr auf den Markt gebracht – als erste offiziell vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassene digitale Gesundheitsanwendung (DiGA). Das bedeutet, dass Ärzte Kalmeda verschreiben und über die Krankenversicherung abrechnen können. Sowohl bei der Konzeption der App, aber auch bei ihrem Marktstart half ihm sein Wissen als Arzt: „Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen bei digitalen Anwendungen eher skeptisch sind. Für den Vertrieb habe ich mich deshalb an eine Pharmafirma gewandt, deren Leute guten Kontakt in die Praxen haben und die App in Ruhe erklären können.“

Aktuell arbeiten Walter und seine zwei Partner an einer englischsprachigen Version der App. Die Doppelrolle als Arzt und Gründer ist zeitintensiv, aber auch spannend: „Das ist schon aufregend, ein Produkt selbst zu entwickeln und auf den Markt zu bringen.“

„Auch wenn unser Kicker nicht im Büro, sondern in der Kantine steht: Wir haben noch viele innovative Gesundheitslösungen im Kopf“

Andrea Niehaus, Bereichsleiterin Unternehmensentwicklung bei der DAAG

Ein smartes digitales Produkt erfolgreich auf den Markt gebracht hat auch die Deutsche Arzt AG (DAAG). Das Start-up aus Essen hatte ein Videosprechstunden-Format entwickelt, das im vergangenen Jahr wegen der Corona-Pandemie stark nachgefragt war. „Der Clou daran ist, dass es browserbasiert funktioniert und trotzdem datensicher ist – ohne dass eine Software von den Nutzenden runtergeladen werden muss“, erklärt Andrea Niehaus, Bereichsleiterin Unternehmensentwicklung bei der DAAG. Das kam so gut an, dass der Pionier der Telemedizinplattformen ZAVA die sprechstunde.online Ende 2020 übernommen hat. Dem Ideenreichtum bei der DAAG tut das keinen Abbruch. „Unser Kerngeschäft ist die Entwicklung von physiotherapeutischen Therapiekonzepten – auch digital. So zum Beispiel das Online-Programm NEXTPHYSIO zur Begleitung und Nachbereitung von Physiotherapiemaßnahmen“, erklärt Niehaus. Nutzende können ein Abo abschließen und über drei Monate gezielt Trainings für ihre Schwachstellen durchführen. Und auch hier war die Pandemie Treiber für den Ausbau des Angebots. Um den Ausfall von Sportmöglichkeiten auszugleichen, entwickelte das Team um Niehaus die Online-Fitnesskurse ABJETZT, die zudem als Präventionsprogramm von den Krankenkassen anerkannt sind und bezuschusst werden. Die DAAG profitiert als Spin-off der NOVOTERGUM Gruppe zwar vom Netzwerk des Schwesterkonzerns, kennt aber trotzdem typische Start-up-Hürden, wie den Wettbewerb um Finanzmittel. Außerdem steht das 20-köpfige Team für kurze Wege und Hands-on-Mentalität. „Auch wenn unser Kicker nicht im Büro, sondern in der Kantine steht: Wir haben noch viele innovative Gesundheitslösungen im Kopf“, lacht Niehaus. Die Ideenfabrik Ruhrgebiet läuft auf vollen Touren!


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