TRAUERBEWÄLTIGUNG

„WENN DEIN KIND STIRBT, STIRBT EIN TEIL DER EIGENEN ZUKUNFT“


Ein Kind während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt zu verlieren, ist immer noch ein Tabuthema. Janine Zeller, Leiterin der Station K2 an der Klinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, engagiert sich im Verein „Leere Wiege Hannover e. V.“, der Eltern bei einem solchen Schicksalsschlag unterstützt.

TEXT: CAROLIN DIEL

FOTO: BILLYHUYNH/UNSPLASH

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Mehr Informationen zum Verein gibt es unter leere-wiege-hannover.de

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Jede 6. Frau hat mindestens einmal in ihrem Leben eine Fehlgeburt. Dazu sterben jedes Jahr rund 2.500 Kinder im Laufe des ersten Lebensjahres. Über diese Themen wird in der Öffentlichkeit allerdings kaum gesprochen – Woran, glauben Sie, liegt das?

Es liegt sicherlich zum einen an der Unsicherheit der Menschen im Umgang mit Trauer an sich. Und wenn Eltern verwaisen, ist das nochmal eine sehr spezielle Situation: Wenn die eigenen Eltern sterben, dann stirbt ein Teil der eigenen Vergangenheit – wenn aber dein Kind stirbt, stirbt ein Teil der eigenen Zukunft.

Was bedeutet es denn für Eltern, wenn sie Kinder so früh verlieren?

Der Schmerz ist schwer zu beschreiben. Die Zukunft, die man sich schon ausgemalt hat, dass man im Winter Schlitten fährt oder im Sommer im Garten spielt, ist plötzlich nicht mehr da. Es ist ganz oft so, dass besonders Mütter dann Gedanken haben wie: Ach, jetzt wäre ich eigentlich im Mutterschutz, jetzt wäre ich in Elternzeit, etc. Man hat alle diese Termine vorgeplant und wenn das Datum näher rückt, kommt die Angst, den Tag nicht zu überstehen. Schuldgefühle und die Frage nach dem Warum spielen außerdem eine große Rolle.

Wie unterstützt Ihr Verein die Eltern in dieser Zeit?

Manche Eltern melden sich noch während der Schwangerschaft, wenn sie erstmals mitbekommen, dass der Verlauf kritisch ist. Zum einen geht es dabei um die Rechte der Eltern, zum anderen darum, wie man bewusst Erinnerungen schaffen kann – durch eine individuelle Bestattung beispielsweise oder indem man professionelle Fotos mit dem verstorbenen Kind macht. Diese Erinnerungen sind enorm wichtig. Wenn ein Jugendlicher stirbt, gibt es viele Bilder oder Kontaktpunkte zu Außenstehenden. Aber wenn ein Kind im Mutterleib oder kurz nach der Geburt verstirbt, gibt es das nicht. Noch schlimmer: Die Eltern werden manchmal gar nicht als Eltern anerkannt. Eine Frau hat mal erzählt, dass sie auf einer Konfirmation am Muttertag eingeladen war und da lag bei jeder Mutter eine Rose auf dem Platz, bei ihr aber nicht. So etwas verletzt. In unserer Elterngruppe kann man solche Erlebnisse besprechen. Wir versuchen außerdem, überhaupt erstmal Wissen über Trauer zu vermitteln. Die Gruppen fangen damit an, dass jeder zum Einstieg erzählen kann, was ihn gerade beschäftigt. Im Anschluss werden Themen rund um die Trauer im Austausch mit anderen Betroffenen erarbeitet, zum Beispiel die Rückkehr in den Beruf oder Trauer und Sexualität. Feste Gruppen treffen sich dann monatlich, um die Trauer weiterzuverarbeiten.

„Trauer ist kein Sprint, sondern ein Dauerlauf.“

Janine Zeller

Trauer ist sehr individuell, wie kann man in der Trauerbegleitung darauf eingehen?

Oft haben die Eltern schon andere Krisen durchgestanden und dort Mechanismen entwickelt, die ihnen geholfen haben. Wichtig ist es, Fragen zu stellen, wie „Was tut mir gut?“ und sich auch zu erlauben, sich Gutes zu tun. Wir geben oft den Hinweis, mindestens einmal am Tag rauszugehen. Das kann auch im Dunkeln sein, wenn einen keiner sieht. Und dann gibt es eben ganz verschiedene Dinge, die Betroffenen helfen: Manche werden kreativ tätig, andere müssen sich bewegen oder einfach viel reden.

Sie haben auch unterschiedliche Angebote für Mütter und Väter. Warum?

Frauen und Männer trauern unterschiedlich. Das bereitet den Paaren oft Probleme. Der Kontakt zu uns kommt meist über die Frauen zustande und die Männer kommen dann ihnen zuliebe mit, ohne selbst groß das Bedürfnis zum Austausch zu haben. Wir haben dann irgendwann den Vätertreff organisiert, um den unterschiedlichen Trauerbedürfnissen entgegenzukommen. Männer finden oft schneller wieder in den Alltag, benötigen bekannte Routinen, während Frauen oftmals noch nicht bereit für gewohnte Abläufe sind. Es kann durchaus auch mal ein halbes Jahr dauern, bis sie sich wieder in der Lage fühlen, zu arbeiten. Frauen müssen auch oft wieder einen Zugang zu ihrem Körper und einen liebevollen Umgang mit ihm finden. Dazu bieten wir zum Beispiel Pilateskurse oder Rückbildung für verwaiste Mütter an.

Was macht das mit der Beziehung der Elternpaare?

In den ersten fünf Jahren nach dem Verlust trennen sich etwa 95 Prozent der Paare. Dies liegt meist daran, dass das Wissen über den unterschiedlichen Umgang mit Trauer nicht da ist und er daher sehr schwerfällt. Äußere Faktoren – Arbeit, Freunde, die gesellschaftliche Tabuisierung – machen es den Eltern zusätzlich schwer. In unseren Gruppen lernen die Paare zu verstehen, dass es normal ist, wie sie sich fühlen. Und es kann auch helfen, gemeinsame Erinnerungsrituale zu schaffen.

Wenn ich jemanden kenne, der eine solche Situation durchmacht, wie kann ich als Angehöriger oder Freund helfen?

Das Wichtigste: nicht den Betroffenen aus dem Weg gehen! Und dabei auch mal eine Ablehnung akzeptieren. Vielleicht nicht fragen „Was brauchst du?“ oder sagen „Melde dich, wenn du was brauchst“. Die Eltern sind oft schlichtweg nicht in der Lage, sich selbst zu melden. Man kann einfach mal mit der Lieblingsschokolade vor der Tür stehen. Manchmal sind es auch kleine Alltagsunterstützungen, die die Eltern entlasten können: Mit dem Hund raus- oder mit dem Geschwisterkind auf den Spielplatz gehen.

Ihr Verein sitzt in Hannover, gibt es auch Angebote für betroffene Eltern hier im Ruhrgebiet?

Es gibt den „Wegbegleiter“, unseren Newsletter mit Tipps für den Alltag, Ansprechpartnern und weiterführenden Artikeln. Gerade weiten wir außerdem unsere Online-Angebote aus. Geplant sind ein Trauer-Chat und eine Telefonberatung. Langfristig möchten wir außerdem Ortsgruppen etablieren.

Was müsste sich gesellschaftlich ändern, um es den frühverwaisten Eltern leichter zu machen?

Besonders wichtig ist es, dass mit der Frage nach der Familienplanung sensibler umgegangen wird, denn das ist eine sehr intime Frage. Trauer muss wieder mehr Platz gegeben werden und vom Gedanken „Nach der Bestattung sei das Schlimmste überstanden“ sollte man sich verabschieden. Mit der Zeit verschwindet das Mitgefühl für die Trauer der Eltern und dann folgt meist die große Stille. Aber Trauer ist kein Sprint, sondern ein Dauerlauf. Außerdem müssen wir mehr Aufmerksamkeit dafür schaffen, dass dieses Thema unglaublich viele Menschen betrifft. Wenn ich offen mit meiner Geschichte umgehe, höre ich ganz häufig, dass Menschen etwas ähnliches selbst oder in der Familie oder im Bekanntenkreis erlebt haben.


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