FAHRRADSTADT

ESSEN AUF RÄDERN


Seit 2012 führt der Allgemeine Deutsche Fahrradclub regelmäßig online den Fahrradklimatest durch, bei dem Radfahrende die Fahrradfreundlichkeit ihrer Stadt bewerten. Die beste Note, die Essen seither erreicht hat: eine 4,0. Wie schlecht steht es wirklich um die Stadt?

TEXT: MAIKE GRÖNEWEG

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) verlieh der Stadt Essen 1991 die Rostige Speiche – und zeichnete sie damit als fahrradunfreundlichste Stadt Deutschlands aus. Seitdem hat sich einiges verbessert, könnte man meinen. Tatsächlich erreicht Essen 2020 in der Kategorie „Fahrradförderung in jüngster Zeit“ im ADFC-Fahrradklimatest, bei dem Radfahrende ihre Stadt auf Fahrradfreundlichkeit bewerten, den zweiten Platz. Warum, weiß Simone Raskob, Geschäftsbereichsvorstand für Umwelt, Verkehr und Sport der Stadt Essen: „Wir haben die Umweltspur in der Innenstadt auf der Schützenbahn umgesetzt, die Protected Bike Lane auf der Bernestraße realisiert und die drei großen Fahrradstraßenachsen gebaut.“ Im Stimmungsbild der Essener Radfahrenden schlägt sich das allerdings noch nicht nieder: Mit einer 4,22 bewerten sie ihre Stadt noch schlechter als in den Vorjahren.

Auch Stephan Rütt vom RadEntscheid Essen möchte sich damit nicht zufriedengeben. Zwar habe die Stadt gezeigt, dass sie in relativer kurzer Zeit handeln könne, allerdings habe sie das im Rahmen eines Vergleichs mit der deutschen Umwelthilfe und dem Land Nordrhein-Westfalen getan, um ein Dieselfahrverbot zu verhindern, so Rütt. „Außerdem entspricht die Umsetzung dieser Maßnahmen nicht dem Standard, den wir uns eigentlich wünschen würden“, betont er. 2019 hat sich der RadEntscheid mit der Kommunalwahl 2020 im Blick als Bürgerbegehren formiert, um sich für eine bessere Radinfrastruktur in Essen einzusetzen. Über 25.000 Unterschriften wurden dazu gesammelt – weitaus mehr, als benötigt wurden, um als Bürgerbegehren zugelassen zu werden. „Das zeigt, dass die Menschen, die hier leben, wirklich mehr mit dem Rad fahren möchten“, schlussfolgert Rütt, „und das sollte sich natürlich in der Infrastruktur äußern.“

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ist die beste Note, die Essen beim Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs seit 2012 erreicht hat.

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Unterschriften wurden für das Bürgerbegehren RadEntscheid gesammelt, das sich für eine bessere Radinfastruktur einsetzt.

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aller Wege innerhalb der Stadt sollen bis 2035 jeweils mit dem Rad, dem ÖPNV, zu Fuß und im Auto zurückgelegt werden.

230 Millionen Euro für bessere Radinfrastruktur

Die Mitglieder des RadEntscheids haben sich die Stadt genau angeschaut und den Verbesserungsbedarf definiert. „Essen wurde, wie viele andere Städte in Deutschland auch, für das Auto geplant und gebaut. Radwege werden heute nur da gebaut, wo keine Parkplätze wegfallen müssen“, sagt Rütt. Eigentlich habe Essen ein Radwegenetz, das sei aber lückenhaft und – die Wege seien zu schmal oder kaputt. Der RadEntscheid hat daraufhin sieben konkrete Ziele formuliert: Ein durchgängiges Netz für den Alltagsverkehr soll ausgebaut, Kreuzungen sicher umgebaut, Fahrradstraßen und -zonen errichtet und Einbahnstraßen geöffnet, sichere Radwege an Hauptstraßen angelegt, Radwege durchgängig und einheitlich gestaltet, Fahrradstellplätze ausgebaut und die Mobilitätswende konsequent und transparent gefördert werden.

Umwelt- und Verkehrsdezernentin Raskob sieht diese Baustellen auch: „Unser Hauptroutennetz hat Lücken, das heißt, zwischenzeitlich müssen die Radfahrenden ungeschützt auf der Hauptstraße fahren. Und es gibt natürlich auch noch Standardverbesserungen, denn die Radwege entsprechen nicht überall der erforderlichen Breite. Deswegen möchten wir die Ziele des RadEntscheids umsetzen.“ Bisher hätten aber die personellen und finanziellen Mittel gefehlt. Das hat sich im August 2020 mit dem Entschluss des Stadtrats Essen geändert, sich dem RadEntscheid und somit auch seinen Zielen anzuschließen. „Damit stehen uns nun 230 Millionen Euro Investitionsmittel in den nächsten acht Jahren nur für Radverkehr bereit. Außerdem werden zusätzliche 28 Stellen im Amt für Straßen und Verkehr und bei Grün und Gruga geschaffen“, so Raskob, „jetzt müssen wir die nötigen Veränderungen auch umsetzen.“

„Essen wurde, wie viele andere Städte in Deutschland auch, für das Auto geplant und gebaut. Radwege werden heute nur da gebaut, wo keine Parkplätze wegfallen müssen“

Stephan Rütt, RadEntscheid Essen

Mehr Mut und Entschlossenheit

Doch gerade an der Umsetzung hapere es oft, findet der RadEntscheid. „Wir haben diese konkreten Ziele formuliert und legen zurzeit mit der Stadt gemeinsame Standards fest. Jetzt wünschen wir uns von der Stadt, dass sie tatsächlich mal beginnt, diese mit Inspiration und Druck umzusetzen. Bisher ist die Verwaltung zu zögerlich“, so Rütt. Dabei hat die Stadt sich selbst ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. „Bis 2035 sollen alle Wege innerhalb der Stadt zu jeweils 25 Prozent mit dem Rad, dem ÖPNV, zu Fuß und im Auto zurückgelegt werden. Aktuell liegt der Anteil der Autowege in der Stadt bei über 50 Prozent, mit dem Rad werden acht Prozent der Strecken zurückgelegt. Aber wir sind auf einem gutem Weg“, so Raskob. Und auch Rütt schließt eine zeitnahe Verbesserung nicht aus: „Ich wünsche mir von der Stadt mehr Mut und Entschlossenheit. Wenn sie ihre Haltung dahin gehend verschiebt, bewegt sich auch was.“


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