GENDERMEDIZIN

DER KLEINE UNTERSCHIED


Sollten Frauen und Männer medizinisch gleich behandelt werden? Wer sich für geschlechtsspezifische Medizin einsetzt sagt: Bitte nicht – und das aus gutem Grund.

TEXT: CAROLIN DIEL

FOTOS: ADOBESTOCK

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Anthony Hopkins durchzuckt scheinbar ein plötzlicher Schmerz. Mit beiden Händen greift er sich panisch an seine linke Brustseite. Der Schauspieler mimt im Film „Rendevouz mit Joe Black“ einen Herzinfarkt. Er zeigt klassische Symptome – zumindest für einen Mann. Hätte eine Frau die Szene gespielt, sähe sie wahrscheinlich anders aus, ist sich Prof. Dr. Anke Hinney sicher. „Die Medien zeigen in der Regel immer noch den typisch männlichen Herzinfarkt“, so die Biologin und Prodekanin für wissenschaftlichen Nachwuchs und Diversität an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen, die im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie forscht.

Seit gut fünf Jahren setzt sich Hinney für geschlechtsspezifische Medizin oder auch Gendermedizin ein. Also dafür, dass Patientinnen und Patienten auch ihrem biologischen Geschlecht entsprechend und damit besser behandelt werden. Denn empirisch ist belegt: Frauen und Männer werden unterschiedlich krank und auch wieder gesund – selbst bei derselben Krankheit. So zeigen Frauen beispielsweise bei einem Herzinfarkt häufig unspezifische Beschwerden wie Bauchschmerzen, Übelkeit oder Atemnot. Das Problem: Nicht nur in den Medien finden diese geschlechtsspezifischen Unterschiede kaum Beachtung, sondern auch in den Praxen, Kliniken, Laboren und medizinischen Fakultäten. Für Patientinnen – aber auch für Patienten – kann das schwerwiegende Folgen haben. Bis hin zum vermeidbaren Tod.

Bei Frauen treten 1,5-mal häufiger als bei Männern unerwünschte Nebenwirkungen auf, wenn sie verschriebene Medikamente einnehmen.

Unentdeckter Herzinfarkt: Das passiert Frauen laut einer britischen Studie doppelt so oft wie Männern.

Eine Tablette braucht für den Weg durch den Körper einer Frau – vom Mund durch Speise­röhre, Magen und Darm – doppelt so lange wie durch den eines Mannes.

Um das zu ändern, initiierte Hinney mit ihrer Kollegin PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn, Tumorforscherin am Institut für Pathologie, vor gut zwei Jahren an der Medizinischen Fakultät das Wahlfach Gendermedizin. „Wir wollen, dass die Studierenden frühzeitig auf das Thema aufmerksam werden und das Geschlecht in ihrer späteren Arbeit immer automatisch mitdenken“, erklärt Kindler-Röhrborn. Knapp 30 Kolleginnen und Kollegen der verschiedensten Fachrichtungen haben die beiden Wissenschaftlerinnen bisher als Dozierende gewonnen.

Eine davon ist Prof. Dr. Arzu Oezcelik. Bevor sich Hinney und Kindler-Röhrborn mit dem Thema zu Wort meldeten, habe sie sich nie Gedanken über das Geschlecht ihrer Patientinnen und Patienten gemacht, sagt die Transplantationschirurgin mit Spezialisierung auf die Leber. Doch dann hatte sie ein Aha-Erlebnis“: Auch in der Transplantationsmedizin sind Frauen benachteiligt. So erfolgt die Organzuteilung bei potenziellen Empfängern über den MELD-Score, der maßgeblich durch den Kreatininwert bestimmt wird. Dieser ist bei Frauen grundsätzlich niedriger als bei Männern. „Also werden Frauen bei der Zuteilung der Organe erst berücksichtigt, wenn ihr Zustand schon wesentlich schlechter ist als der leberkranker Männer“, so Oezcelik. Und das ist nur einer von vielen genderspezifischen Faktoren. Bei klinischen Entscheidungen berücksichtigt sie diese inzwischen immer mit. In anderen Fachbereichen sei das aber noch lange kein Standard, beklagt sie.

In die Feminismus-Ecke geschoben

Aber woran liegt das? „Der Gendermedizin haftet immer noch etwas ‚Schmuddeliges‘ an. Das Wort ‚Gender‘ hat einen schlechten Ruf“, sagt Biologin Hinney. Schnell werde man in die Feminismus-Ecke geschoben. Aus diesem Grund habe sie überlegt, ob sie im Wahlfach Gendermedizin überhaupt dozieren wolle, erklärt Chirurgin Oezcelik: „Gerade mein Fachgebiet ist ein ‚Cowboyfach‘, wo man sich mit Geschlechterfragen schwertut.“ Da der Begriff „Gender“ nur die soziokulturelle Geschlechterrolle beschreibt, jedoch nicht die biologischen Geschlechterunterschiede, bevorzugt Kindler-Röhrborn den Begriff „geschlechtsspezifische Medizin“ statt „Gendermedizin“. „Auch wenn beide Faktoren nicht voneinander zu trennen sind, spielt die Biologie eine große Rolle“, erklärt die Tumorforscherin. Viele für die Medizin relevanten geschlechtsspezifischen Unterschiede basieren zumindest teilweise auf dem jeweils unterschiedlichen Hormon-Mix und der Tatsache, dass Frauen zwei X-Chromosome und Männer nur eins, aber auch ein Y-Chromosom besitzen. Trotz der Vorurteile, die der geschlechtsspezifischen Medizin noch immer anhaften, sehen die drei Kolleginnen aber auch Fortschritte. Mit einer neuen Generation an Biologinnen und Medizinern wächst das Bewusstsein für die geschlechtsspezifischen Unterschiede. Die Hoffnung auf ein Umdenken, sagen Hinney, Kindler-Röhrborn und Oezcelik, ruht auf den Jungen.


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