GESUNDHEITSSYSTEM

FEHLER IM SYSTEM


Aktuelle Forderungen der Gewerkschaft ver.di nach Entlastung von Tarifangestellten an den Universitätskliniken in NRW werfen Fragen auf. Es geht um mehr als um Arbeitszeit und Geld.

TEXT: LUTZ ZIMMERMANN

FOTOS: ADOBESTOCK

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Das ausgerollte Plakat hinterließ den gewünschten Eindruck. 1.903 Unterschriften hatten Beschäftigte gesammelt, um ihrer Forderung nach Entlastung Ausdruck zu verleihen. Als sie dem Vorstand der Universitätsmedizin Essen das Plakat überreichten, ernteten sie Verständnis: „Natürlich müssen die Pflege und andere Berufsgruppen entlastet werden“, sagte der Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Jochen A. Werner. Aber die Klinik allein könne das eben nicht leisten: „Das liegt im Verantwortungsbereich der Politik.“

Worum geht’s? Die Gewerkschaft ver.di hat den Arbeitgeberverband von NRW zu Verhandlungen über einen „Tarifvertrag Entlastung“ für die Universitätskliniken aufgefordert. Bereits 2018 hatten die Unikliniken Essen und Düsseldorf eine Vereinbarung mit ver.di getroffen. Darin ging es unter anderem um die Schaffung von 140 Vollkraftstellen für die Pflege am Bett und im Funktionsdienst wie etwa im OP sowie 40 weitere Stellen in Bereichen wie dem Krankentransport, die Sicherstellung der praktischen Ausbildung in der Pflege oder feste Regelungen zur Nachtbesetzung auf den Stationen. Diese Vereinbarung, zum Teil übererfüllt, hat ver.di mittlerweile gekündigt. In Essen verursachte die Vereinbarung bereits einen jährlichen Fehlbetrag im zweistelligen Millionenbereich. Werner: „Und diese Finanzierungslücke ist bis heute nicht geschlossen.“

Wenn nun erneut Streiks den Krankenhausbetrieb lähmen sollten, möchte der Ärztliche Direktor das zum Anlass nehmen, eine Grundsatzdiskussion zu forcieren: „Es liegt einfach nicht in der Macht der Unikliniken, die chronische Unterfinanzierung und die Überlastung des Personals allein zu verändern.“ Eine grundlegende Verbesserung der Situation sei nur durch zielführende Maßnahmen der Politik über einen längeren Zeitraum, aber keinesfalls durch regionale Streiks erreichbar. Das Problem, so Werner, liege tiefer. „Die Forderungen von ver.di zielen auf Symptome eines kranken Systems. Selbst, wenn sie alle erfüllt würden – die Ursachen heilen wir so nicht.“

„Es ist Zeit für eine grundsätzliche Lösung.

Prof. Dr. Jochen A. Werner

Beispiel Personalmangel: Das Defizit an qualifiziertem medizinischen Personal ist bundesweit zu beobachten. „Es ist ein strukturelles, kein lokales Problem, das unter anderem in der mangelhaften Finanzierung von Krankenhäusern liegt“, so Thorsten Kaatze, kaufmännischer Direktor der Universitätsmedizin Essen. Einer Studie der Unternehmensberatung Roland Berger zufolge war die finanzielle Situation der Krankenhäuser noch nie so angespannt wie derzeit. Jedes zweite Krankenhaus verzeichnete 2020 trotz Freihaltepauschalen und sonstiger Unterstützungsleistungen zur Bewältigung der Pandemie ein Defizit. Selbst privat geführte Häuser und Klinikverbünde können sich dem Trend nicht widersetzen.

Vieles ließe sich digital lösen

Ein anderes Beispiel ist die mangelnde Attraktivität der Arbeitsplätze. Viele Pflegefachkräfte verbringen noch immer einen wesentlichen Teil ihrer Arbeitszeit nicht mit der Pflege oder dem Gespräch mit ihren Patientinnen und Patienten, sondern mit patientenfernen Tätigkeiten: Dokumentation, Essensbestellung, Betten- und Gerätemanagement oder Terminvereinbarung – Tätigkeiten, die Zeit und Ressourcen kosten und von der eigentlichen Kernaufgabe abhalten. „Vieles davon ließe sich längst digital lösen“, so Werner. Aber wie in anderen Lebens- und Wirtschaftsbereichen ist Deutschland hier rückständig. Werners Urteil: „Die Medizin in Deutschland ist noch weitgehend analog, vor allem denkt und plant sie noch analog.“ Zwar gilt die Universitätsmedizin Essen mit ihrer Smart-Hospital-Strategie deutschlandweit als gutes Vorbild, das Gesamtbild aber mache Sorge: „Medizinische Fortschritte zwischen den Disziplinen, eine dauerhafte Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems, vor allem aber mehr Menschlichkeit durch die Entlastung von bürokratischen Tätigkeiten mit mehr Zeit für Patienten, all das schaffen wir nur durch eine signifikante Steigerung unserer digitalen Leistungsfähigkeit.“

Der neuerliche Vorstoß von ver.di zeigt ein weiteres Manko des Systems auf: In Deutschland gibt es einen Flickenteppich an Interessenvertretungen medizinischer Teilbereiche. Tatsächlich aber ist die Krankenhauslandschaft nur ein Baustein eines komplexen Gesundheitssystems mit vielen Akteuren innerhalb und außerhalb der eigentlichen medizinischen Leistungserbringung. Auch hier, angefangen bei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten über Rehabilitationseinrichtungen bis hin zu den Gesundheitsämtern, gibt es noch erhebliche digitale Defizite, die die Qualität und auch die Effizienz der gesamten Krankenversorgung maßgeblich negativ beeinflussen.

Laut der Studie von Roland Berger erwarten 83 Prozent aller Krankenhäuser in Deutschland für die kommenden Jahre eine Verschlechterung ihrer finanziellen Situation. Und Investitionen, zum Beispiel in klimafreundliche Kliniken (siehe Seite 11), haben die meisten von ihnen noch gar nicht auf dem Zettel. Werner: „Es wird Zeit, dass sich die Politik nun endlich an die Lösung von grundlegenden Strukturproblemen einschließlich einer auskömmlichen Finanzierung für die Krankenhäuser macht.“

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Streik – und dann?

Als die Universitätsmedizin 2018 bestreikt wurde, sind rund 3.000 Operationen ausgefallen. Bedingt durch die Pandemie müssen noch heute Operationen nachgeholt werden. Sollte es nun wieder zu Streiks kommen, müssen Patientinnen und Patienten erneut mit Einschränkungen in der Versorgung rechnen, auch eine Beeinträchtigung der Notfallversorgung ist nicht ausgeschlossen.


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